Verhaltenskynologischer Leitfaden für Züchter und Welpenerwerber

Wem der Hund als Züchter oder künftiger Hundehalter wirklich am Herzen liegt, wird sich mit der Kynologie, der Lehre vom Hund, befassen. Es handelt sich dabei um ein ausserordentlich vielseitiges und spannendes Wissensgebiet. Das Wissen um den Hund ist in dem Umfang eine Heraus for der ung, wie der Einzelne da rum bemüht ist, einerseits dem Hund gegenüber gerecht zu werden und andererseits eine harmonische Beziehung zu ihm zu haben. Dem Ver halten und Wesen eines Hun des kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Denn darin liegt genau das, was ihn für uns Menschen so wertvoll macht und uns innerlich so bereichern kann.

Text: Dina Berlowitz, Andrea Weidt, Heinz Weidt

Wie sich aber ein Hund in seinem Wesen entwickelt, hängt nicht nur davon ab, was in seinen erblichen Anlagen steckt, sondern auch davon, was wir ihm als naturnotwendige Fürsorge von Beginn seines Lebens an garantieren. Dieser Einfluss ist sehr viel grösser und weitreichender, als bisher im Allgemeinen geglaubt wird. Deshalb befasst sich dieser Leitfaden damit, praxisnah jenes Grundverständnis der Natur zu ermöglichen, das den heutigen Bedürfnissen von Mensch und Hund nachhaltig dient und dem aktuellen Stand des Wissens entspricht.

Nutzen daraus soll zunächst einmal der Züchter ziehen, der bisher die Lösung mancher Verhaltens- oder Wesensprobleme vergeblich in den Genen sucht. Aber auch der künftige Hundehalter soll wissen, worauf es wirklich ankommt. So mag noch selbstverständlich sein, dass man einen Welpen weder über den Versandhandel bezieht, noch am Autobahnparkplatz kauft. Auch der klangvolle Name des Stammbaums ist es nicht. Viel wichtiger ist, wie es mit der sozialen Kompetenz eines Züchters und dessen Gestaltung der Aufzuchtbedingungen aussieht. Vor allem geht es aber darum, zu verstehen, was für eine gelingende Verhaltens- und Wesensentwicklung von einem so hoch organisierten Lebewesen wie dem Hund tatsächlich entscheidend ist.

Darin liegt noch ein anderer, höchst bedeutsamer und oft nicht ausreichend bedachter Effekt. Er besteht darin, dass viele grundsätzliche Mechanismen und Abhängigkeiten des Verhaltens beim Hund dem Prinzip nach jenen des Menschen oft sehr ähnlich sind. Das gilt vor allem für das Lernen und die Gefühlsentwicklung. Ohne unzulässige Gleichmacherei können daher viele Probleme bei unseren Hunden ein überschaubares und nachdenklich machendes Modell für manche Probleme in unserer Gesellschaft, vor allem im Umgang mit Kindern sein. Ein solcher Vergleich ist umso weniger anstössig, je mehr wir dabei bemüht sind, die verbleibenden Unterschiede zwischen Mensch und Hund zu sehen und zu suchen.

Als Autoren bemühen wir uns über jeweils unterschiedlich lange Zeiträume und aus verschiedenen Perspektiven auf das aufmerksam zu machen, was in der Vergangenheit entweder schleichend verloren gegangen oder trotz neuer und weiterführender Erkenntnisse unberücksichtigt geblieben ist. Wir stützen uns dabei nicht nur auf das von uns zugänglich gemachte Wissen und die daraus ermöglichten Einsichten. Der analysierte Hintergrund wird auch von den praktischen Erfahrungen des Lebens bestätigt. Eine Vorreiterrolle hat dabei die international renommierte Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde Allschwil übernommen. n langjähriger Zusammenarbeit wurde dort Pionierarbeit für ein neues Grundverständnis der Zusammenhänge von Zucht und Wesen geleistet. Die erzielten Ergebnisse dürften in ihrer Bedeutung weit über die Grenzen der Schweiz hinausreichen. Verschiedene Einblicke finden sich auch in diesem Leitfaden. Freuen Sie sich also auf den Gewinn neuer Ein- und Aussichten für die Gestaltung Ihrer Zucht oder beim Erwerb Ihres neuen vierbeinigen Hausgenossen.

Natürliche Gesetzmässigkeiten Wie alles Leben auf der Erde, unterliegt auch das Verhalten und Wesen unserer Hunde bestimmten Gesetzmässigkeiten der Natur. Als Wolfsabkömmlinge wurden sie über den langen und verschlungenen Weg der Domestikation, womöglich auch der Koevolution an die unterschiedlichsten Bedürfnisse des Menschen angepasst. Ein kaum zu glaubender Variationsreichtum, wie er auch durch die grosse Rassevielfalt zum Ausdruck kommt, legt davon Zeugnis ab. Je nachdem, zu welchem Nutzen des Menschen Hunde dann schliesslich planmässig gezüchtet wurden, sind sie zu den unterschiedlichsten (Verhaltens-)Leistungen befähigt. Ihr Lebensraum, ihr „Verwendungszweck“ und die Art ihrer Beanspruchung und Beschäftigung standen dabei ursprünglich in einem zueinander passenden Verhältnis.

Diese Passung entspricht dem Vorbild und Wirkungsgefüge der Natur in der Weise, wie beispielsweise Eisbären im kalten Norden und Kamele in heissen Wüsten- und Steppengebieten leben. Die betreffenden Lebewesen haben sich mit ihrem Organismus und ihrem Verhalten in einem von uns Menschen nur sehr schwer vorstellbar langen Zeitraum von Jahrmillionen bestmöglich in ihren jeweiligen Lebensraum eingepasst. Das Lebewesen und sein Lebensraum, also seine spezielle Umwelt, gehören aufs Engste zusammen und sind für ein selbstständiges Leben nicht beliebig veränderbar. Anders ist es bei uns Menschen. Im Laufe unserer Entwicklungsgeschichte haben wir uns unter Gebrauch von Werkzeug und selbst geschaffenen Hilfsmitteln solche Voraussetzungen gestaltet, die ein Leben unter extrem unterschiedlichen Bedingungen – zumindest befristet – möglich machen. Im begrenzten Umfang gilt das auch für unsere Hunde, sofern wir dabei als Fürsorgegaranten Schutz und Fürsorge übernehmen und die Grenzen ihrer jeweiligen Anpassungsfähigkeit nicht überschritten werden.

Grenzen der Anpassungsfähigkeit Die Grenzen der Anpassungsfähigkeit eines Hundes werden beispielsweise dort überschritten, wo von ihm körperliche und psychische Leistungen abverlangt werden, die er nicht erbringen kann. Aber auch dort, wo ein Hund ein hohes Leistungsvermögen besitzt, es jedoch durch die Art seiner Haltungsbedingungen nicht beanspruchen und ausleben kann, wird die Fähigkeit, mit seiner Umwelt und sich selbst zurechtzukommen, überfordert. So ist es zum Beispiel völlig natürlich, wenn ein antriebsstarker und hochveranlagter Jagdgebrauchshund ausschliesslich als familiärer Haushund in der Stadt gehalten wird und seine ständig unterdrückten Antriebe zunächst Unarten sowie zunehmend Verhaltensstörungen, dann unerwartete Zerstörungswut und schliesslich unkontrollierbare Aggressivität entstehen lassen.

Häufiger noch entstehen Probleme, oft auch so genannte Wesensmängel dadurch, dass ein Hund mit dem Leben in unserer belastungsreichen Zivilisationsumwelt, den Lebensgewohnheiten seines Halters oder mit der Erfüllung der an ihn speziell herangetragenen Aufgaben einfach nicht fertig wird. Dies, obwohl die jeweilige Rasse oder die betreffende Zucht eine solche Enttäuschung nicht erwarten lässt. Auch hier handelt es sich in den häufigsten Fällen um ein Anpassungsproblem. Wir werden uns aber weniger damit auseinander setzen, dass die erwartete Anpassungsfähigkeit eines Hundes zunächst einmal eine Frage der Vernunft, also gewissermassen des gesunden Menschenverstandes ist. Was bei der Zucht oder Auswahl von Hunden vernünftig ist, werden wir uns nicht anmassen hier festzulegen. Vielmehr setzen wir die grundsätzlich notwendigen Einsichten dazu voraus und versuchen die mehr verborgenen Abhängigkeiten offenkundig zu machen.

Die Anpassungsfähigkeit des einzelnen Hundes spielt sich auf ganz verschiedenen Ebenen ab. Wir werden uns bemühen, dazu die wichtigsten Zusammenhänge in einer Weise darzustellen, dass Sie zunächst Freude am Erkennen ungewohnter Einsichten und schliesslich Erfolg bei ihrer praktischen Anwendung haben.

Gene und Anpassungsfähigkeit

Die Entstehung und der Wandel der Lebewesen auf unserer Erde hat damit zu tun, dass in erdgeschichtlich langen Zeiträumen, also in Jahrmillionen und Jahrtausenden eine fortschreitende Anpassung der Arten an die sich ebenfalls ändernde Umwelt stattfand und immer noch stattfindet. Im Allgemeinen bleibt dies jedoch von uns Menschen unbemerkt, weil der natürliche Veränderungs- und Anpassungsprozess in der Zeitspanne eines einzelnen Menschenlebens kaum feststellbar ist. So wird meist erst im Rückblick auf Jahrtausende und Jahrmillionen dieses Geschehen nachvollziehbar und nach dem heutigen Stand des Wissens erklärbar.

Ein grundlegender Mechanismus dieses Geschehens besteht darin, dass Lebewesen einer Nachfolgegeneration nicht das identische Abbild ihrer Eltern sind. Vielmehr sind sie innerhalb gewisser Bandbreiten das Ergebnis eines Spiels an Möglichkeiten und unterscheiden sich deshalb genetisch von ihren Eltern. Wie gut die Nachkommen mit ihrer neuen Mischung an erblichen Eigenschaften in ihre Umwelt passen, stellt sich dann im Ringen um das Dasein heraus. Ist ihre erbliche „Mixtur“, also die Neukombination ihrer Gene weniger gut für die Anforderungen ihrer Umwelt geeignet, werden sie nicht oder nicht allzu lange überleben. Sind sie hingegen besser angepasst, haben sie grössere Chancen, am Leben zu bleiben und wieder Nachkommen zu haben, die wiederum den gleichen Spielregeln oder besser gesagt Gesetzmässigkeiten unterliegen. Der genetische Wandel nimmt sozusagen nach Zufall und Notwendigkeit seinen Lauf.

In beschleunigter Weise ist dies nach dem gleichen Prinzip bei der Domestikation und noch schneller bei der gezielten Zucht unserer Haustiere und somit auch bei unseren Hunden der Fall. Der entscheidende und beschleunigende Unterschied besteht darin, dass hier die Auslese bezüglich der Eignung der Tiere nicht von der Natur, sondern von der Vorstellung des Menschen bestimmt wird. Mit diesem Wandel von der natürlichen zur künstlichen Auslese ist es unter anderem auch möglich geworden, dass solche Hunde(-Rassen) existieren, die unter natürlichen Bedingungen gar nicht mehr überlebensfähig wären.

Ganz allgemein kann man auch sagen, dass über den Weg der Domestikation und planmässigen Zucht unser Haushund mehr oder weniger seine ehemals natürliche Selbstständigkeit als Wolf verloren hat und heute weitgehend vom Wohl und Wehe des Menschen abhängt. So kann sich der Hund im Allgemeinen weder seine arteigenen Fortpflanzungspartner aussuchen, noch mit wem er eine Lebensgemeinschaft führen will und welche Art von Umwelt ihm am liebsten wäre. Damit ist aber auch der Mensch in eine Rolle geraten, die ihn als Fürsorgegarant dazu verpflichtet, all das zu tun, was das Wohlergehen der von uns abhängigen Hunde bestmöglich sichert.

Gene und ihre Entfaltung

Die Anpassung der Lebewesen an die Anforderungen ihrer Umwelt geht nicht nur den langen Weg allmählicher genetischer Veränderungen. Geradezu wie aus einem Zauberkasten hat die Natur noch andere und jeweils unterschiedlich tief und schnell wirkende Lösungen parat. Das gilt auch für unseren Hund. Eine der bisher am wenigsten durchschauten und in ihrer Tragweite nicht ausreichend verstandenen Strategien besteht darin, dass Gene in ihrer Funktion und Wirkung durch direkte und indirekte Einflüsse der Umwelt ein- oder ausgeschaltet werden. Das heisst, dass bei gleicher Veranlagung allein durch Einflüsse der Umwelt ganz unterschiedliche Eigenschaften entstehen können. Die Veränderungen gehen natürlich nicht so weit, dass aus einem afrikanischen Löwenhund ein Bernhardiner wird, nur weil er in der wunderschönen Bergwelt des St. Bernhards aufwächst. Der Unterschied kommt also nicht etwa durch eine Veränderung der genetischen Struktur, also der erblichen Anlagen zustande, sondern dadurch, dass das gleiche Erbgut durch umweltbedingte Einflüsse andere, gewissermassen alternative Wege der Entfaltung gehen kann.

Wird ein trächtiges Säugetier mit Stress konfrontiert, den es nicht bewältigen kann, verändert sich für den entstehenden Nachwuchs die unmittelbare Umwelt des versorgenden Mutterleibes. Die Zusammensetzung des inneren chemischen Milieus ändert sich und nimmt dadurch Einfluss auf die Art und Weise, wie das genetische Entwicklungsprogramm realisiert wird (Vorgeburtliche Einflüsse). Die Embryonen versuchen gewissermassen, sich im Rahmen ihrer Entwicklungsmöglichkeiten an die vom Üblichen abweichenden Umweltbedingungen anzupassen. Gelingt das im Extremfall nicht, etwa weil die indirekt erzeugten Einflüsse zu massiv sind, so kann es sein, dass sich je nach dem bis dahin erreichten Entwicklungsgrad die Embryonen auflösen oder es zu Fehlgeburten kommt. Liegen die Einflüsse in einem noch verkraftbaren Rahmen, so kann es beispielsweise dazu kommen, dass sich der Nachwuchs im weiteren Verlauf nach der Geburt abweichend ängstlich und aggressiv entwickelt.

Versucht man nun dazu die Gesetzmässigkeiten der Natur zu verstehen, so wird ihre Genialität geradezu schlagartig deutlich: In einer Umwelt, die massiven unbewältigbaren Stress für ein Muttertier darstellt, macht es keinen biologischen Sinn, Nachwuchs zu haben. Der Nachwuchs kommt deshalb dort nicht weiter zustande. Ist ein trächtiges Muttertier weniger dramatischem, aber immer noch kaum bewältigbaren Stress ausgesetzt, so gelangt auf dem indirekten Weg der mütterlichen Stress reaktionen die Botschaft an den heranreifenden Nachwuchs, sich auf eine belastungsreiche Umwelt einzustellen. So kommen Jungtiere zur Welt, die offensichtlich schon vorgeburtlich darauf eingestellt sind, später ihr Leben in einer offenbar gefahrvollen Umwelt durch erhöhte Ängstlichkeit und Aggressivität zu sichern.

Selbstverständlich läuft nicht immer alles nur so ab, wie hier verkürzt und vereinfacht dargestellt. Die Bandbreite an Möglichkeiten ist gross und die verschlungenen Wege sind oft so versteckt, dass sie geradezu heimtückisch erscheinen und beispielsweise als Spätfolge erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter Hirntumore entstehen lassen. Sicher ist jedenfalls, dass hier mehr oder weniger erfolgreiche Anpassungsvorgänge stattfinden, die zwar an den Genen ansetzen, sie aber nicht verändern, sondern „nur“ Einfluss auf die Art ihrer Realisierung nehmen.

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