Verhaltenskynologischer Leitfaden für Züchter und Welpenerwerber

Was Welpen als Erstes brauchen

Ein Welpe traut sich zunächst umso mehr zu, je sicherer er sich im Bedarfsfall der Verfügbarkeit und der Schutzfunktionen seines Fürsorgegaranten ist. Damit ist die aus einer sicheren Bindung hervorgehende emotionale Sicherheit entscheidend daran beteiligt, dass sich das Lernverhalten positiv entwickelt und die natürlichen Ängste vor Unbekanntem Schritt um Schritt überwunden sowie die Gegebenheiten der Umwelt richtig eingeordnet werden können. Und so ist es eigentlich ganz einfach zu verstehen, dass eine sichere Bindung dem natürlichen Ziel des Selbstständigwerdens junger Lebewesen und dem Erlangen ihrer Selbstsicherheit dient.

Das gilt beispielsweise auch dann, sollte einmal ein Züchter den einen oder anderen Welpen länger bei sich behalten müssen. So wäre es schlichtweg unsinnig, einen übrig gebliebenen Welpen psychisch in der Luft hängen zu lassen und ihm als Züchter kein Hort des Vertrauens zu sein, damit er sich vermeintlich später besser auf den künftigen Hundehalter einstellen kann. Aus dem natürlichen Bindungsbedürfnis des Welpen heraus ist genau das Gegenteil nur allzu leicht verständlich: Die emotionale Sicherheit gibt die Kraft, psychische Belastungen besser zu ertragen, also auch Trennungen leichter zu überwinden und neue Beziehungen vertrauensvoller einzugehen. Langjährige Erfahrungen mit Blindenführhunden zeigen dies deutlich. Aufgrund ihres speziellen Werdeganges wechselt ihr Fürsorgegarant häufiger als sonst üblich, während sie zugleich besonders hohen Lernleistungen und psychischen Anforderungen ausgesetzt sind.

Es ist also wirklich an der Zeit, die tiefgreifende Bedeutung der Bindung für das psychische Leistungsvermögen unserer Hunde zu verstehen und die verfügbaren Kenntnisse (siehe auch genannten Sonderdruck) in die Alltagspraxis zu überführen. Tut man dies nicht, so ist es geradezu ein Hohn, alle möglichen statistischen und sonstigen Aufwendungen sowie züchtungsgenetische Massnahmen zu betreiben, um damit nach nebulösen Genen zu suchen, die für Wesensmängel verantwortlich sein sollen.

Die Bedeutung der Eigenaktivität

Um das ganze körperliche und psychische Leistungsvermögen, das in unseren Hunden veranlagungsmässig steckt, zur Entfaltung kommen zu lassen, brauchen sie nicht nur alle bisher aufgezeigten äusseren Rahmenbedingungen. In ebenso unverzichtbarer Weise braucht es seitens des jeweiligen Fürsorgegaranten von Geburt des Welpen an ganz bestimmte Umgangsformen. Damit ist die Art des wechselseitig aufeinander bezogenen Verhaltens beider Handlungspartner gemeint (Interaktion). Zur Erinnerung: Anfänglich ist der Fürsorgegarant die instinktsichere Hündin, dann mehr und mehr parallel dazu der Züchter und schliesslich der Welpenbesitzer.

In diesem Geschehen des wechselseitigen Aufeinandereingehens sind unauffällige, aber ausserordentlich weitreichende Gesetzmässigkeiten verborgen. Erst wenn sie in ihrer Funktion verstanden sind und im Alltag regelmässig eingehalten werden, kann sich das Verhalten und Wesen so entwickeln, wie es im Allgemeinen erwartet wird.

Eine instinktsichere Hündin besitzt dazu die angeborene Sicherheit des biologisch richtigen Handelns. Sofern der Züchter oder Welpenbesitzer „aus dem Bauch heraus“ nicht vergleichbare Fähigkeiten hat, muss er sie sich durch Einsicht und praktisches Tun erwerben. Dazu wollen wir auf einige prinzipiellen Zusammenhänge anhand eines praktischen Beispiels näher eingehen. Ausgangspunkt ist der Geschehensverlauf an einem speziellen Lernspielgerät, dessen tiefgründige Funktionen kaum auf Anhieb erkennbar sind.

Im Alter von etwa drei bis vier Wochen beginnen Welpen ihre nähere Umgebung ausserhalb der Wurfkiste zu erkunden. Dort hat der Züchter neben anderen Lernstrukturen ein so genanntes Balancierkarussell bereitgestellt (siehe Abbildung). Zu unserer Vereinfachung beobachten wir nur einen einzigen Welpen und nehmen dabei etwa folgenden Verlauf an:

Der Welpe wird in vorsichtiger Zurückhaltung dieses bisher unbekannte Objekt beschnuppern und es irgendwann mit seinen Pfoten erkunden, vielleicht auch nur zufällig berühren. Die dadurch ausgelösten Wackelbewegungen stellen sich für ihn wie eine Antwort auf sein vorausgegangenes Tun dar und erwecken vielleicht mit etwas Verzögerung erneut und eventuell noch etwas intensiver seine Neugier. Das kann sich mehrfach hintereinander, mit oder ohne zeitliche Abstände wiederholen. Diesem Wiederholen liegt gewissermassen die Strategie zugrunde, herauszufinden, ob dieses Objekt wirklich gefahrlos und das Geschehen nur zufällig ist oder einer gewissen „Logik“ unterliegt. Irgend wann wird sich der Neugier- und Erkundungsdrang gegenüber der Angst vor Unbekanntem so weit durchsetzen, dass dieses immer noch relativ unbekannte Objekt erklommen und darauf Fortbewegungen versucht werden. Es ist dann eine Frage des Reifegrades und der erreichten Bewegungsfähigkeit, bis es dem Welpen gelingt, sich auf dem schaukelnden Objekt balancierend fortzubewegen.

Schon nach wenigen Versuchen und innerhalb von ein paar Tagen wird er sich lustvoll mit dem Balancierkarussell auseinander setzen und auch dem geübten und kritischen Beobachter den sicheren Eindruck vermitteln, dass sich der Welpe darauf wie zuhause fühlt. Die für ihn nicht voraussehbaren Schaukel- und Drehbewegungen, welche er selbst oder auch die weiter beteiligten Geschwister auslösen, können ihn nicht aus seinem ganz offensichtlich freudig gestimmten inneren Gleichgewicht bringen. Vielmehr beschäftigt er sich immer wieder mit dieser lustvollen Herausforderung. Im Verlauf der relativ schnellen körperlichen und psychischen Entwicklung wird auch deutlich, dass seine Fähigkeiten im Bereich der Sensomotorik und Psychomotorik stark zunehmen und der Umgang mit dem Balancierkarussell immer heftiger, aber auch immer selbstverständlicher wird. Das ist auch logisch, denn mit zunehmendem Gewicht des heranwachsenden Welpen werden die ausgelösten Schaukel-, Wackel- und Drehbewegungen immer stärker und die Anforderungen an die Sinnes- und Körperleistungen immer grösser. Es findet ein geradezu automatisch gesteuerter, sich selbst organisierender und sich selbst fördernder Entwicklungsprozess statt.

Fragt man nun danach, was dabei alles im Organismus und bei der Verhaltens- und Wesensentwicklung stattfindet, wird man über die Vielschichtigkeit erstaunt sein.

Der kompetente Welpe

Anhand des aufgezeigten Beispiels lässt sich schon bei erster grober Betrachtung feststellen, dass es dem Welpen möglich war, durch eigenes Tun etwas zu bewirken und dabei an sich selbst zu wachsen. Allein die Bereitstellung geeigneter Rahmenbedingungen durch den Züchter hat genügt, die Entfaltung und das Gefühl von Selbstwirksamkeit und Situationsbeherrschung entstehen zu lassen. Der Welpe konnte aus dem Gefühl der vertrauten Umgebung und dem Geborgenheitsgefühl aus der verfügbaren Nähe der Hündin, also aus einer sicheren Bindung heraus, seine natürliche Eigenaktivität zum Erkunden entfalten. Dabei konnte er zugleich die ebenfalls natürliche Unsicherheit gegenüber Neuem in Sicherheit wandeln. In seinem emotionalen Gedächtnis hat sich eingeprägt, dass er unbekannten und gefahrvoll erscheinenden Situationen nicht hilflos ausgeliefert, sondern dazu fähig ist, sie zu bewältigen.

Mit diesem „Startkapital“ an Selbstsicherheit hat er gute Voraussetzungen, sich schrittweise seine Welt zu erobern und sich durch weiteres Lernen von ihr ein Bild zu machen, das frei von unnötigen Ängsten ist.

Die Aktivitäten des Balancierens haben aber auch seinen Gleichgewichtssinn herausgefordert. Zur Orientierung und Stabilisierung der eigenen Lage im Raum wurde ein Grossteil seiner Sinne mobilisiert und dadurch sehr wirkungsvoll Lern- und Integrationsleistungen herbeigeführt sowie die Hirnentwicklung angeregt. Es wird auch wenig wundern, dass als Nebeneffekt Welpen unter solchen Aufzuchtbedingungen kaum Probleme haben, wenn sie später den Schaukelbewegungen des Autofahrens ausgesetzt sind. Beispielsweise dann, wenn sie beim Züchter von ihrem künftigen Hundehalter abgeholt werden.

Der grosse Schweizer Kinder- und Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896 bis 1980) hatte schon vor ca. 60 Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass die sensomotorische Entwicklung des (Klein-)Kindes eine Grundlage der Entfaltung der geistigen Fähigkeiten des Menschen ist. Die heutige moderne Hirnforschung bestätigt dies auf eindrückliche und differenzierte Weise. Diese Erkenntnisse sowie eigene praktische Versuche und Erfahrungen haben uns deshalb dazu geführt, überall dort, wo aus den unterschiedlichsten Gründen bei Hunden hohe Anforderungen an ihr Wesen sowie an ihre Lern- und Verhaltensleistungen gestellt werden, entsprechende Entwicklungsbedingungen zur Grundlage zu machen. Gerade auch hier hat die Blindenführhundeschule Allschwil äusserst engagiert wie erfolgreich neuen Wegen der Praxis die Türe geöffnet.

Wie ebenfalls mit dem Beispiel des Balancierkarussells aufgezeigt, besteht ein wesentliches Prinzip der Entwicklungsförderung darin, Lerngelegenheiten und Lernschritte so zu arrangieren, dass sie immer wieder neue und reizvolle, aber nicht überfordernde, sondern stets bewältigbare Anforderungen darstellen. So kann die Bewältigungsfähigkeit immer wieder aus sich heraus – gewissermassen automatisch wachsen. Auf diese Weise verschieben sich die Grenzen der Belastbarkeit immer weiter nach oben und lassen zunehmend Resistenz gegenüber Stress und somit Wesensfestigkeit entstehen. Dieses sich selbst fördernde Geschehen findet in der Affekt- Logik eine weiterführende und gut verständliche Erklärung. Gleichzeitig wird aber auch klar, dass jede Form von Überbehütung solche förderlichen Prozesse unterbindet und damit spätere Überforderungen regelrecht provoziert.

Verständlicherweise ist es im Rahmen dieses Leitfadens nicht möglich, auf die vielschichtige Bedeutung der natürlichen Fähigkeiten einer Zuchthündin und auf Details einer gelenkten Verhaltensentwicklung ihrer Welpen im Sinne von „Frei entfalten und geführt lernen“ einzugehen. Wichtig ist zunächst einmal, ein sehr viel besseres, naturkundlich ausgerichtetes Grundverständnis von unserem Hund herzustellen. Nimmt man nämlich die natürlichen Bedürfnisse eines Welpen wirklich von Anfang an ernst und stellt sein Wohlergehen ungeachtet aller späteren Ziele in den Mittelpunkt, so wird er schon früh zu einem kompetenten Lebewesen, das mit uns in be sonderer Weise einen höchst bereichernden gemeinsamen Weg geht. Ergänzen sich Züchter und ihre Welpenerwerber in diesem gemeinsamen Bemühen, werden sie von zahlreichen Problemen verschont und durch angenehme, zuverlässige und wesenssichere Hunde belohnt.

Anmerkung

Dieser Leitfaden ist vor allem auf eine kurze und übersichtliche Darstellung von vernetzten Sachverhalten mit grundsätzlicher Bedeutung sowie deren gute Verständlichkeit ausgerichtet. Wer sich mit den angesprochenen Zusammenhängen etwas näher befassen möchte, ist gut beraten, für seine speziellen Fragen und ein vertieftes Hintergrundwissen das Buch „HUNDEVERHALTEN – DAS LEXIKON“ heranzuziehen. Schlüsselwörter und Begriffe, die in dem vorliegenden Leitfaden kursiv geschrieben sind, wie beispielsweise „Soziale Kompetenz“, „Passung“ oder „Auslese“, finden in dem genannten Lexikon weitergehende und eingängige Erklärungen.

 

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