Schweizer Hunde Magazin

Hundehölle Apulien: das System «canile»

«Die Grösse und den moralischen Fortschritt einer Nation kann man daran messen, wie sie die Tiere behandelt.» Mahatma Gandhi

Warnung: Bei der Internetrecherche zu diesem Thema sieht man Bilder, die man nicht sehen möchte. Erbärmliche Kreaturen, kranke und verstümmelte Hunde, die gequält vor sich hinsiechen. Ebenso wie die Bilder der hiesigen Massentierhaltung und -schlachtung zeigen sie uns, wie wenig weit fortgeschritten im Sinne Gandhis, ja wie pervers die Menschheit ist. Das tut weh. Es gibt aber Hoffnung. Der folgende Bericht soll auch davon handeln.

Jedes Jahr werden in Europa etwa eine Million Strassenhunde vergiftet, überfahren, erschossen, gehängt und zu Tode geprügelt; oder sie verhungern auf der Strasse oder leiden in Tierheimen, die diesen Namen nicht verdienen. Vielerorts ist die Überpopulation menschgemacht und hat System. Besonders krass ist die organisierte Tierquälerei im süditalienischen Ferienparadies Apulien.

Text: Andreas Krebs

«Ich lebe hier am Puls des Grauens», sagt Dietmar Steffan, «Stefano» genannt. Der topfitte 60-jährige Österreicher hat vor neun Jahren «den Zivilisationsmüll» hinter sich gelassen, wie er sagt – unter anderem eine Scheidung und der Bruch mit einem guten Freund –, und ist «ausschliesslich der Tiere wegen» nach Leporano am oberen Ende des italienischen Stiefelabsatzes gezogen, ins Ferienparadies Apulien.

Leporano ist eine reizvolle Hafenstadt mit einem kleinen, natürlich geschützten Hafen namens Pirrone. Das Castello Muscettola, die zahlreichen historischen Kirchen und sonstige Sehenswürdigkeiten der Region ziehen Touristen aus allen Herren Länder an. Sie geniessen Sonne, Meer, Fisch, Gelati – bella Italia eben. Und dazu gehören auch die paar wohlgenährten, touristenverwöhnten Strassenhunde.

Das Grauen bleibt den frohen Touristen verborgen. «Es ist nirgends so schlimm wie hier», sagt Stefano, der weltweit als leidenschaftlicher Tierschützer im Einsatz war.

«Das Problem ist lösbar»

Das italienische Tierschutzgesetz verbietet das Quälen, Aussetzen und Töten von Tieren. Aber das Gesetz ist ein Papiertiger. «In Apulien hat die Tierquälerei System», sagt Stefano.

Es gibt wenige offizielle Zahlen, aber viele einigermassen kohärente Schätzungen zahlreicher Tierschutzorganisationen. Laut Stefano gibt es in Italien 7,5 Millionen Tierbesitzer, 1,2 Millionen Streuner und 650 000 Hunde in rund 1000 Tierheimen. Zum Vergleich: In Deutschland gibt es rund 250 000 Tierheimhunde. Alleine in Apulien, so Stefano, gebe es 80 000 Streuner und fast so viele Tiere in weit über hundert Heimen. Jedes Jahr werden 50 000 Welpen auf der Strasse geboren und 130 000 Hunde ausgesetzt. Die meisten von Betreibern der sogenannten Canili. Das sind Tierheime, die diesen Namen nicht verdient haben – doch dazu kommen wir später. Um die 40 000 Strassenhunde stürben jedes Jahr an Hunger, Unfällen, Krankheiten oder von Menschenhand, fährt Stefano fort. Einige Zehntausend werden von Hundefängern eingefangen und in die Canile gebracht. Die anderen pflanzen sich fort und wiederholen damit den Kreislauf aus Leid und Tod, zigtausendfach.

«Das Problem könnte mittels Sterilisation innert fünf Jahren gelöst werden», meint Stefano. Er war technischer Koordinator bei grossen Umweltkatastrophen und hat den italienischen Behörden wiederholt anerboten, Sterilisationen im grossen Stil durchzuführen. «Aber daran ist man nicht interessiert. Niemand hat ernsthaft im Sinn, den Hunden zu helfen.»

Denn mit den armen Geschöpfen wird ein makabres, sehr lukratives Geschäft gemacht – es ist das «System Canile». Unter dem Schlagwort «emergenza randagismo» werden seit 1991 Millionen von Steuergeldern im Namen des Tierschutzes unterschlagen.

Geschäft mit dem Elend

Oft sind es alte Schlachthöfe oder Industrieareale, die in Canile umfunktioniert wurden. Dort leben 200, 500 oder auch über 1000 Hunde auf engstem Raum eingepfercht. Der italienische Staat unterstützt die Canile pro Hund und Tag mit durchschnittlich vier Euro. Deshalb ist jeder Hund willkommen; deshalb wird kaum kastriert oder sterilisiert.

Überhaupt fehlt es an medizinischer Versorgung; ebenso an Zuwendung, frischem Wasser, Futter und Schutz vor Sonne und Regen. Tödliche Beissereien sind an der Tagesordnung. Fast alle Tiere sind mehr oder weniger krank: Sie haben aufgequollene Pfoten, Räude, Krebs oder Leishmaniose – die Situation ist auch aus seuchenschutzrechtlicher Sicht riskant. Das ist die Hundehölle von Italien. 2010 wurde das Drecksgeschäft mit 730 Millionen Euro subventioniert!

Angefangen hat die längst mafiös organisierte Tierquälerei 1991 mit einer Änderung des italienischen Tierschutzgesetzes. Seither verbietet der Paragraf 281/91 die Tötung (auch schwerkranker) Hunde und subventioniert stattdessen deren «Internierung» in Tierheimen. Die Folgen: 1990 gab es in Apulien rund 20 000 streunende Hunde und nur wenige Tierheime. Heute sind beinahe 80 000 Hunde in über einhundert Canile «endgelagert»; und wohl ebenso viele Hunde streunen auf den Strassen. Alleine in Apulien hat sich also seit Eintreten des neuen Gesetzes vor 20 Jahren die Zahl der herrenlosen Hunde von 20 000 auf beinahe 160 000 verachtfacht! Mit einem Bruchteil des Geldes hätten Kastrations- und Sterilisationsaktionen im grossen Stil durchgeführt werden können – damit wäre das Problem in den Griff zu kriegen.

Was stattdessen passiert, erläutert Stefano: «Ein Canile mit 1000 Hunden wird monatlich mit rund 150 000 Euro subventioniert. Maximum 10 000 davon werden für die Hunde ausgegeben. Der Mammutteil wandert in die Taschen der Canile-Besitzer, Bürgermeister, Tierärzte und anderer korrupter Insider.»

Der Hunde-Mafia ein Dorn im Auge

Cicto, eine internationale Koalition deutschsprachiger Vereine und Personen vor allem aus der Schweiz und aus Deutschland, weist seit einigen Jahren auf die absurden Auswüchse des italienischen Tierschutzgesetzes hin. Es sei sehr komplex, sagt der Journalist Stefan Weber, Mitglied von Cicto und Geschäftsleiter des Vereins Tierärzte im Einsatz. Das System Canile sei ein kulturelles, politisches und ökonomisches Problem. Weber macht Lobbyarbeit in Rom, organisiert Sterilisationsaktionen und Projekte in Schulen. Apulien habe er gewählt, weil die Situation dort besonders schlimm sei und weil das Gesetz es wenigstens erlaube, Strassenhunde zu sterilisieren und dann wieder frei zu lassen. Aber die Arbeit sei sehr schwierig. «Die vielschichtige Korruption spielt in allen Bereichen des Lebens», sagt Weber und bestätigt Stefanos Aussage, dass Hunde von den Canile-Besitzern ausgesetzt werden: «so bleiben die Strassenhunde gut sichtbar und damit ist die Existenzberechtigung der Canile gegeben.» Sie hätten schon Dörfer «geputzt» und in einer Nacht kam dann ein Transporter mit 15 Hunden, davon waren drei trächtig, fünf läufig und der Rest potente Rüden. So verkommen die Kastrationsaktionen der Tierschützer zur Sisyphusarbeit.

Webers Verein Tierärzte im Einsatz fordert deshalb den Stopp der Subventionierung der privaten Hundeheime, die Einführung einer Hundesteuer und Registrationspflicht sowie die obligatorische Kastrationen aller Strassenhunde. «Wir bieten kostenlose Massenkastrationsaktionen an, unter der Bedingung, dass die anderen Forderungen politisch erfüllt werden.» Um der Kampagne in Apulien mehr Nachdruck zu verleihen, um die Tourismus-Branche zu Befürwortern zu machen und um auf EU-Ebene aktiv werden zu können, brauche es eine breit abgestützte Lobby, so Weber. Diese Funktion übernehme Cicto, die internationale Koalition der Tierschutzorganisationen.

Menschen wie Weber und Stefano sind der Hunde-Mafia ein Dorn im Auge. «Mit unseren Sterilisationsaktionen haben wir in ein Wespennest gestochen», sagt Weber. «Ich habe sehr viel Einschüchterung erlebt.» Ebenso Stefano, dessen Auto schon völlig demoliert wurde. Im November 2011 wurde ein Tierschützer gar erschossen. «Ich bin hier nicht gerne gesehen», ist sich Stefano bewusst. «Aber ich habe ihren Widerstand gebrochen.» Er habe der Mafia gesagt: «Ich habe mein Leben gelebt, ihr könnt mir in den Rücken schiessen. Dann kommen zehn neue aus meinem Land, und die wollen Öffentlichkeit unbedingt vermeiden, weil sie eine Beeinträchtigung des Tourismus fürchten. Diese Branche setzt jährlich mehr als 156 Milliarden Euro um und beschäftigt jeden neunten Italiener.»

Lebenslänglich Bilder

Aber zurück zum Thema. Ausser für trächtige oder läufige Hündinnen, die ausgesetzt werden, gibt es in der Regel keinen Weg aus einem Canile lebend wieder herauszukommen. Adoptionen finden kaum statt, sind sogar unerwünscht. Die Vermittlung der Hunde oder eine gute Versorgung würden nur den Gewinn schmälern. Und so fristen die Hunde ihr Dasein 24 Stunden täglich, 7 Tage die Woche und 365 Tage im Jahr in engen, stinkenden und verwahrlosten Boxen oder in winzigen Käfigen. Sie sehen nur Beton und Gitter, ihr Gefängnis verlassen diese Hunde nie. Dann und wann erscheint ein Arbeiter, der Kot wegspritzt und billigstes Trockenfutter und fauliges Wasser dalässt. Besucher sind in den Canile unerwünscht – vielerorts ist selbst das Betreten der Anlagen streng verboten.

Ernst von Feuchtersleben, Mitglied des Vereins Strassenhunde in Not, schildert in einem Bericht den von Stefano organisierten Besuch eines Caniles nahe Tarantos in 2010. «Die Canile sind kaum aufzufinden und die Anfahrt zu einem Canile gestaltet sich als schwieriges Unterfangen. Auch wir benötigten – trotz ortskundiger Hilfe – eine volle Stunde und vier Telefonate, um das Canile zu erreichen. (…) In dem Hundelager sind rund 500 Hunde eingepfercht. Drei Personen, die die Zwinger reinigen und nach den Hunden sehen, sind nur stundenweise da. Die übrige Zeit sind die Hunde sich selbst überlassen. (…) Für die Hunde gibt es in den Canile weder genügend Freiraum noch Beschäftigungsmöglichkeiten. Es gibt kein Spiel und keine Spaziergänge. Unter diesen Bedingungen werden die Hunde zwangsläufig entweder wahnsinnig, depressiv oder aggressiv. (…) Um ein Canile mit wenigen Worten zu beschreiben: Mehrere hundert Meter lange Fabrikgebäude – Stein und Beton –, ohrenbetäubendes Gejaul und Gebell. Für die Tiere bedeutet Canile: einmal angekommen, ein Leben lang bleiben.» Es dränge sich der Eindruck auf, so von Feuchterslebens Fazit, «dass die Hunde besser auf der Strasse aufgehoben sind als in einem Canile».

Lieber auf der Strasse als im Canile

Davon sind Weber und Stefano überzeugt. «Trotz aller Härte und Risiken ist das Leben eines Strassenhundes unvergleichlich besser, tiergerechter und naturgemässer als das jahrelange Siechtum und Sterben in den Canile», sagt Stefano. Er hat in und um Leporano Futterstellen eingerichtet, die er täglich mit seinem alten Landrover abfährt, um rund hundert Streuner zu füttern. Futter und Benzin gehen meist von seinem Ersparten weg, seit sein Architekturbüro stark unter der Krise leidet. Stefano ist auf Spenden angewiesen. Mitglieder seines Vereins Nuova Vita sind auch Tierfreunde aus der Schweiz und aus Deutschland, zum Beispiel Silke Trapp aus dem Schwarzwald. «Ich habe grössten Respekt vor Stefano und seinem Einsatz für die Strassenhunde», sagt sie. «Solange die Ursachen für dieses Tierleid nicht behoben werden, muss man Menschen wie ihn unterstützen.» Deshalb hat Trapp zusammen mit ihren Kolleginnen die Website des Vereins Nuova Vita aufgebaut. Damit sollen Transparenz und vor allem Vertrauen geschaffen und verstärkt auf das Thema aufmerksam gemacht werden. Die Website hilft auch bei der Vermittlung von Tieren. Das sei immer ein sehr frohes Ereignis, sagt Stefano: «Jede einzelne gerettete Seele zählt.» Das Wichtigste aber bleibe das Sterilisieren – damit erspare man den vielen Ungeborenen ein grausames Leben.

Quotes:

«Das Problem könnte mittels Sterilisation innert fünf Jahren gelöst werden.»

«Alleine in Apulien hat sich die Zahl der herrenlosen Hunde von 20 000 auf beinahe 160 000 verachtfacht!»

«Mit unseren Sterilisationsaktionen haben wir in ein Wespennest gestochen.»

«Hunde sind besser auf der Strasse aufgehoben, als in einem Canile.»

Mehr Info finden Sie unter folgenden Links:
www.stefano-nuova-vita.com
www.stie.ch
www.cicto.org

Sinnvoll spenden

Mit einer einfachen Google-Recherche findet man an die hundert Organisationen, die für die Hunde in Apulien Gelder sammeln. Zwischen seriös und unseriös zu unterscheiden ist nicht einfach. Bevor man spendet, muss man sich deshalb gut informieren. «Hände weg, wenn die Transparenz fehlt», sagt Martina Ziegerer, Pressesprecherin der Stiftung zewo. Die Schweizerische Zertifizierungsstelle für gemeinnützige, Spenden sammelnde Organisationen zertifiziert bis dato keine Tierschutzvereine. Bei diesen gelte aber dasselbe wie bei anderen Spenden sammelnden Organisationen. Ziegerer: «Das Minimum an Transparenz sind von unabhängiger Stelle revidierte Jahresrechnungen und Jahresberichte.»

Besonders bei grossen Organisationen geht oft ein grosser Anteil der Spendengelder für die Administration drauf, teilweise über 50 Prozent. Das SHM empfiehlt deshalb kleine Hilfsorganisationen mit hohem Anteil an Freiwilligenarbeit.

Was kann man tun?

Nebst Geld zu spenden, haben Sie eine einfache Möglichkeit, Ihren Protest zu dieser schrecklichen Situation in Apulien kund zu tun. Auf der Page der Organisation Cicto finden Sie ein Protestmail, dort können Sie ganz unkompliziert Ihren Namen und die Adresse eintragen: http://www.cicto.org/protest2010/. Helfen Sie mit, die italienischen Behörden wach zu rütteln und ihnen klar zu machen, dass ausländische Touristen über die Situation der italienschen Strassenhunde Bescheid wissen.

Ob man als Tierfreund seine Ferien in Süditalien verbringen möchte, muss jeder für sich entscheiden.