Schweizer Hunde Magazin

Hunde mit Handicap

Dank der Fortschritte der Veterinärmedizin ist vieles möglich geworden, was noch vor ein paar Jahren undenkbar war. Fast alle Behandlungsverfahren, die in der Humanmedizin zum Einsatz kommen, können auch zum Wohle unserer Hunde eingesetzt werden. Ähnlich verhält es sich mit Hilfsmitteln, wie zum Beispiel Rollwagen oder Beinprothesen, die für Hunde modifiziert werden. Ist das wirklich immer zum Wohle unserer vierbeinigen Wegbegleiter? Muss wirklich alles getan werden, was möglich ist?

Text: Sophie Strodtbeck

Aus verschiedensten Gründen müssen Hunde manchmal mit einem Handicap leben. Leider ist es häufig sogar der Mensch, der bestimmte Rassen so züchtet, dass sie, wären sie Menschen, einen Grad der Behinderung von mindestens 50% zugesprochen bekämen. Man schaue sich nur manchen Deutschen Schäferhund mit Fliessheck oder einen nasenlosen und röchelnden Mops (oder wahlweise jede andere brachycephale Rasse) mit Atemnot an, bei dem man zusätzlich befürchten muss, dass seine Augäpfel bereits bei kleinen Traumen aus den Augenhöhlen fallen. Oder Dackel, deren Rücken inzwischen oft so lang sind, dass die Dackellähmung programmiert ist. Oder Cavalier King Charles Spaniel oder andere Klein(st)hunde, deren Gehirn im knöchernen Schädel keinen Platz mehr findet. Oder, oder, oder… Die Liste liesse sich leider noch beliebig fortführen. Diese Formen von Behinderungen bei Hunden wären vermeidbar, wenn der Mensch solche Hunde endlich nicht mehr züchten, prämieren und (ver-)kaufen würde.

Aber oft sind es auch Unfälle, die zum Beispiel die Amputation einer Gliedmasse oder die Entfernung eines Augapfels unvermeidbar machen. Manchmal sind es auch schwere Erkrankungen, wie zum Beispiel Knochenkrebs oder ein Bandscheibenvorfall, der dazu führt, dass das Tier nur noch eingeschränkt mobil ist.

Was auch immer die Ursache ist, für den Hund und seinen Halter ist plötzlich alles anders. Meist bleibt in einer solchen Notfallsituation wenig Zeit, sich Gedanken über die Konsequenzen eines Lebens mit Behinderung zu machen. Es muss schnell gehen. Wie bereits gesagt: Möglich ist fast alles. Und manche Tierärzte sind schnell dabei, das Mögliche auch als das Richtige zu verkaufen. Für viele Hundehalter ist der Gedanke, den Vierbeiner gehen zu lassen, einfach unerträglich. Und so führen oft Zeitdruck, High-Tech-Medizin und egoistisches Nichtloslassen-Können des Halters dazu, dass der Hund nachher ein Leben führt, das unter Umständen nicht lebenswert für ihn ist. Womit wir bei einer ganz entscheidenden Frage sind: der Frage nach der Lebensqualität.

Was bedeutet Lebensqualität?

Fast jeder von uns hat das gebräuchliche Wort «Lebensqualität» im Zusammenhang mit dem Hund schon verwendet. Aber wenn man beginnt, sich über die Definition des Begriffes ernsthaft Gedanken zu machen, merkt man sehr schnell, dass die Lebensqualität eines Hundes für uns nur zu erahnen, aber niemals wirklich zu erfassen ist.

Bei uns Menschen ist die Frage nach der Lebensqualität deutlich einfacher zu beantworten: Man kann uns fragen und wir können antworten. Das ist zunächst recht subjektiv, womit wir aber auch schon bei einem entscheidenden Kriterium der Lebensqualität sind: Sie wird von jedem Einzelnen subjektiv empfunden. Beim Menschen wird Lebensqualität weniger als die objektive Verfügbarkeit von materiellen und immateriellen Dingen definiert, sondern als der Grad, mit dem ein vom Einzelnen erwünschter Zustand an körperlichem, psychischem und sozialem Befinden auch tatsächlich erreicht wird. Manch einer hat bereits mit einem Schnupfen das Gefühl, in der Lebensqualität stark eingeschränkt zu sein, während bei anderen auch mit schweren Erkrankungen und den dadurch verursachten starken Einschränkungen das Wohlbefinden wenig vermindert ist.

Zur Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität existieren beim Menschen viele Messinstrumente, die sowohl psychometrisch geprüft als auch international verfügbar und normiert sind. Beim Hund ist das deutlich schwieriger, denn wir können ihn leider nicht fragen. Den körperlichen Zustand kann man (vermeintlich) noch beurteilen, in die Psyche eines Hundes hineinzuschauen ist da schon wesentlich schwieriger. Wir können nur das, was wir von aussen sehen nach unseren jeweils eigenen Massstäben bewerten. Wir können vermuten, dass es ihm gut geht, aber wirklich wissen können wir es nie.

Schon unsere eigenen Massstäbe variieren, genauso wie Hunde und ihre Ansprüche sehr individuell und variabel sind. Auch die Rassezugehörigkeit spielt sicherlich eine Rolle, denn die Bedürfnisse eines Zwergpudels sind andere als die eines Arbeitshunds, wie zum Beispiel des Malinois. Denn auch wenn Hunde viel mehr als wir Menschen im Hier und Jetzt leben und sicherlich, im Gegensatz zu uns Menschen, nicht mit ihrem Schicksal hadern, so haben sie doch Bedürfnisse, die sie mitbringen und die befriedigt werden wollen.

Nur weil ein Hund einen Menschen, vielleicht Kontakte zu Artgenossen, Schmerzfreiheit und einen vollen Napf hat, heisst das noch nicht, dass er dadurch automatisch Lebensqualität besitzt. Auf der anderen Seite kann man nicht mit Sicherheit sagen, dass ein Hund, der zum Beispiel unter einer Stereotypie leidet und sich zum Stressabbau ständig die Pfoten wund leckt, keine Lebensqualität hat, auch wenn es für uns so erscheinen mag. Ähnlich subjektiv dürfte das Empfinden eines Hundes im Rollwagen (oder zum Beispiel mit amputierter Gliedmasse) sein. Es gibt viele Hunde, die damit wunderbar zurechtkommen und denen man die Behinderung gar nicht anmerken würde, wenn sie nicht den Rollwagen dabei hätten. Andere wiederum kommen überhaupt nicht damit klar, man merkt, dass sie das Gefährt als Fremdkörper wahrnehmen.

Genauso einen Vierbeiner hatte ich mal in Pflege. Eine siebenjährige Hündin, die ursprünglich aus dem Auslandstierschutz kam und aufgrund eines Rückenmarkinfarktes gelähmt war. Anfangs funktionierte nicht einmal die Blasen und die nötige Physiotherapie durchzuführen war eine Qual für sie, weil sie Menschen gegenüber sehr scheu war. Der Rollwagen war für sie absolut furchteinflössend. Für mich waren die Wochen, in denen ich die Hündin betreute, die reinste Hölle, denn mein Herz blutete bei ihrem Anblick. Wäre es meine Hündin gewesen, hätte ich ihr das nicht zugemutet. Denn mich begleitet auch aus meiner Zeit als Tierärztin der Leitsatz: Nicht der Tod ist Leiden für ein Tier, sondern ein Leben unter inadäquaten Bedingungen. Die Bedingungen für diese Hündin waren damals auf jeden Fall inadäquat – würde ich sagen (ich würde aber auch für mich selber so entscheiden). Auf der anderen Seite hat die Hündin einen tollen Menschen gefunden, der bereit ist, alles für sie zu tun. Sie hat die Scheu vor Menschen verloren und sie kommt inzwischen besser mit ihrem Rollwagen zurecht, ist nun in der Lage, Kontakte zu Artgenossen zu haben, Erkundungsverhalten zu zeigen und die Nähe von Menschen zu geniessen. Aber «inzwischen» ist über ein Jahr später… Ich hätte, wie gesagt, zu jener Zeit bei meinen Hunden anders entschieden, aber genauso ist im Nachhinein die damalige Entscheidung eine vertretbare gewesen.

Zutaten für Lebensqualität

Zur Beurteilung der Lebensqualität oder zur Entscheidungsfindung in einer Situation, in der man die Verantwortung für sein Tier und dessen weiteres Leben übernehmen muss, helfen vielleicht die folgenden Fragen:

Entscheidend ist also das individuelle Tier, um das es geht, die Bedürfnisse, die es hat, die Art des Eingriffes bzw. die Schwere der Einschränkungen, die dieser mit sich bringt, und auch die Bereitschaft des Menschen, das Tier zu unterstützen.

All das sollte in die Entscheidungsfindung pro oder kontra Leben mit Behinderung einbezogen werden.

Diese und sicherlich viele weitere Fragen sollte sich der Hundehalter vorher stellen und ehrlich beantworten und die eigene Verlustangst nach Möglichkeit hintenanstellen. Denn diese Entscheidung sollte immer im Interesse des Tieres und nicht des Menschen gefällt werden!

Gleiches gilt für den behandelnden Tierarzt, der die Pflicht hat, nicht nur über die medizinischen Möglichkeiten, sondern auch über deren Sinn und Unsinn aufzuklären.

Das gilt natürlich in erster Linie für grosse Eingriffe, die unter Umständen Einfluss auf das gesamte weitere Leben des Tieres (und das des dazugehörigen Menschen) haben. Selbstredend kommt ein Hund mit zum Beispiel nur einem Auge oder amputierter Rute ohne grosse Einschränkungen seiner Lebensqualität zurecht. Und ebenso viele Hunde auch mit grossen Einschränkungen wie einer Querschnittslähmung, aber eben nicht alle. Beobachten Sie Ihren Hund gut und möglichst objektiv. Stellen Sie Ihre Entscheidung immer wieder in Frage, werden Sie nicht «betriebsblind». «Fragen» Sie Ihren Vierbeiner immer mal wieder und er wird Ihnen seine Lebensfreude zeigen ‒ oder auch nicht…