Verhaltenskynologischer Leitfaden für Züchter und Welpenerwerber

Beste Absichten und falsche Schlüsse

Kennt man das vorher beschriebene Wirkungsgefüge der Natur nicht – und das ist leider noch überwiegend der Fall –, so kommt auch der wohlwollendste Züchter trotz bester Absichten fast zwangsläufig zu falschen Schlüssen. Nach bisherigen Denkgewohnheiten ist nahe liegend, dass beispielsweise die erhöhte Neigung zu Angst und Aggressivität sowie zu Wesensmängeln bei den Hunden seines letzten Wurfes in einer „unglücklichen“ Verpaarung anzunehmen ist. Und so steht womöglich schnell der vorher hoch gepriesene Rüde als „schlechter Vererber“ unter vielleicht gar noch zuchtausschliessendem Verdacht.

Wer ein bisschen über die tatsächlichen Zusammenhänge nachdenkt, wird anhand dieses Beispiels auch erkennen, dass solchen und zahlreichen ähnlichen Auswirkungen schon aus prinzipiellen Gründen nicht mit einem noch so schlauen statistisch-genetischen Computerprogramm der Zuchtwertschätzung beizukommen ist.

Es könnte aber auch sein, dass der diesen Zusammenhang erkennende Züchter aus dem Gefühl des Unbehagens und dumpfer Ahnungen unbewusst der Selbstberuhigung zum Opfer fällt. Und so geht er vielleicht davon aus, dass seine Hündin ja immer geschont wird, wenn sie trächtig ist, und unser Beispiel sowieso nur in Extremfällen, also höchst selten auftreten dürfte. Dem sei sehr praxisbezogen gegenübergestellt, dass es beispielsweise eine grosse Zahl von Hunden gibt, für die hoher und unbewältigbarer Stress entsteht, wenn sie sich selbst überlassen werden. Vor allem ist das dort der Fall, wo das Alleinsein nicht richtig gelernt wurde und deshalb – auch bei trächtigen Hündinnen – tiefgreifende Verlassenheitsangst entsteht. Das gilt auch dort, wo sich die davon betroffenen Hunde irgendwann – gewissermassen aus Selbstschutz – der Resignation hingeben und dann „völlig ruhig“ erscheinen. Wer unser Frühwarnkonzept zur Vermeidung umweltbedingter Verhaltensstörungen kennt (siehe auch Literaturhinweise), weiss, wie man die negativen Folgen sonst oft gar nicht durchschauter Überforderungen vermeiden kann.

Vielleicht wird aber auch einsichtig, was es bedeutet, mit einer trächtigen Hündin auf eine Hundeausstellung zu gehen, oder mit ihr an mehr oder weniger sportlichen Veranstaltungen teilzunehmen – „wo man ihr den Zustand doch noch gar nicht ansieht“!

Wer also beste Absichten, aber auch klare Einsichten hat, dürfte schon jetzt von der dunklen Vorahnung beschlichen werden, dass wir uns bei den Bemühungen um Verbesserungen in der Zucht wohl eher in einem Labyrinth von unerkannten und oft selbsterzeugten Problemen bewegen. Etwas schonungslos und ernüchternd sei darüber hinaus angekündigt, dass unsere weiteren Betrachtungen den Eindruck kaum vermeiden können, trotz bester Absichten im Zuchtgeschehen gewissermassen das Pferd von hinten aufzuzäumen und mit der Stange in einer „genetischen Vernebelung“ herumzustochern.

Instinktsicherheit und Lernfähigkeit als natürliche Massstäbe

Wie mittlerweile deutlich geworden sein dürfte, hängt das Verhalten und Wesen unserer Hunde nicht nur von ihrer jeweiligen Veranlagung ab, sondern auch davon, in welcher Weise ihre Gene durch ihre Umwelt zur Entfaltung kommen. Dabei ist unstrittig, dass sie entsprechend ihrer Rassezugehörigkeit jeweils unterschiedliche, genetisch bedingte Verhaltenstendenzen aufweisen. Die Unterschiede stecken also nicht nur in ihren variationsreichen Erscheinungsbildern und in ihren unterschiedlichen körperlichen Fähigkeiten. Auch was sie wie gut lernen können, hängt von ihren verschieden veranlagten Lernfähigkeiten ab. Das führen uns beispielsweise Hüte- und Jagdhunde nicht nur in ihrem ursprünglichen „Arbeitsgebiet“ vor Augen. Auch als familiäre Sozialpartner oder noch mehr als Katastrophen- und Rettungshunde, womöglich sogar als Blindenführhunde erbringen sie für uns Menschen faszinierende Leistungen.

Allerdings darf ebenso wenig verleugnet werden, dass es auch solche absichtsvoll herbeigeführte Zuchtergebnisse bei Hunden gibt, deren angeborene Bereitschaft für soziales Lernen und Sozialverhalten in einem völlig unnatürlichen Umfang so eingeschränkt ist, dass sie direkt oder potenziell eine ernste Gefahr für Leib und Leben von Mensch und Tier darstellen können. In solchen abartigen Fällen sind bei der Hündin zum Beispiel schon während des Geburtsgeschehens die natürlichen Abläufe der Erstversorgung ihrer Welpen und das Brutpflegeverhalten mehr oder weniger massiv gestört. Der Nachwuchs wird nicht nur vernachlässigt, sondern von der Hündin je nach dem Grad ihrer Ausfallserscheinungen drangsaliert oder – sofern sie daran nicht gehindert wird – getötet. Aber auch die Welpen zeigen sich abnormal. Sie können mit ihren Geschwistern oder auch anderen Welpen kaum oder gar nicht spielen und ihr Verhalten ist in weiten Bereichen unnatürlich stark von Unsicherheit, Angst und Aggression sowie der Unfähigkeit gekennzeichnet, für ein normales Leben in der Gemeinschaft ausreichend sozial lernen zu können. Hier geht es also nicht um eine fehlende, also versäumte Sozialisierung, sondern um die Unfähigkeit zur Sozialisierung!

Weitergehende Folgerungen gehören mehr in den Bereich ethischer Ansprüche und Wertmassstäbe unserer Gesellschaft als in die Alltagsphilosophie unseres Hundewesens, das davon ja immer wieder selbst nachhaltig geschädigt wird.

Für einen körperlich und psychisch gesunden Fortbestand unserer Hunde ist daher von gröss ter Bedeutung, darauf in verpflichtender Weise zu achten, dass alle elementaren Lebens- und Verhaltensvorgänge uneingeschränkt funktionstüchtig sind. Zuverlässig erkennbar ist dies an der Instinktsicherheit einer Hündin. Sie kommt vor allem durch deren Fortpflanzungsverhalten, ihrer selbstständigen Gebärfähigkeit und allem im Zusammenhang mit der Geburt stehenden Verhalten, insbesondere dem Vollständigkeitsgrad des Brutpflegeverhaltens zum Ausdruck. Dazu gehört beispielsweise das Aufreissen der Eihaut, das Abquetschen der Nabelschnur, die Leckmassage des neugeborenen Welpen, das Vertilgen der Nachgeburt und das augenblicksund situationsgerechte Eingehen auf die Betreuungsappelle der Welpen.

Unnötige Eingriffe und Manipulationen des Menschen nehmen dem natürlichen Geschehen nicht nur seine Aussagefähigkeit über die verhaltensbezogene Erbgesundheit der Zuchttiere. Sie führen bei ihnen auch zu belastenden Stressreaktionen und beim Nachwuchs über verschlungene Pfade und Wege zu unvermuteten, aber oft weit reichenden Folgen. So spricht immer mehr dafür, dass sich schon sehr früh ein so genanntes Körpergedächtnis entwickelt. Beispielsweise kann das Fehlen oder Verhindern der natürlichen mütterlichen Fürsorge zum Ausbleiben von „Initialzündungen“ im jungen Gehirn des Nachwuchses führen und in dessen späterem Erwachsenenleben die eigene Fähigkeit mütterlichen Verhaltens einschränken. Hier handelt es sich um so genannte maternale Effekte.

In ähnlicher Weise können sich unerwartete Folgen einer Rotlicht-Aufzucht auswirken. Unter normalen Bedingungen verhindert die technisch-physikalische Wärmestrahlung einer Rotlichtlampe jene natürlichen Herausforderungen des heranwachsenden Organismus, die dazu führen, dass die körpereigene Thermoregulation nach und nach zur Entfaltung kommt. Eine instinktsichere Hündin kann und muss unter vernünftigen Aufzuchtbedingungen solche Qualitäten an Nestwärme bieten, die weit mehr bedeuten als nur ausreichende Umgebungstemperatur für die Welpen. Vielmehr entstehen durch diese und andere Formen menschlicher Überbehütung Einschränkungen in der Fähigkeit des Organismus, sich auf die unterschiedlichsten Anforderungen des Lebens angepasst einstellen zu können. Dies hat vor allem für die gemeinsame Entwicklung des Körpers und seiner Sinne und damit auch für das Lernen und Verhalten weitreichende Bedeutung.

Das Öffnen der Fenster zur Welt Für den heranwachsenden Welpen sind seine Sinnesorgane gewissermassen die Fenster zur Welt. Wie wir selbst beobachten können, öffnen sie sich nicht alle gleichzeitig. So geZuchthen beispielsweise die Augen und Gehörgänge etwa erst 14 Tage nach der Geburt auf, während der Tast- sowie der Geruchsund Geschmacksinn bereits bei der Geburt relativ weit gereift ist und zum Teil auch schon vor der Geburt ansatzweise funktioniert. Die Reifung der Sinnesorgane geht in der Weise und in der Reihenfolge vonstatten, wie sie im Laufe der Entwicklung gebraucht werden. Im Rahmen seiner jeweils gereiften Möglichkeiten macht sich der Welpe nach und nach ein Bild von seiner Welt. Dieses innere Bild entsteht nicht nur daraus, wie er die Welt in ihrer äusseren Beschaffenheit wahrnimmt, sondern zugleich auch dadurch, wie er sie gefühlsmässig erlebt.

Heute ist prinzipiell völlig klar, dass sich jeder einzelne Welpe sein eigenes Bild von jener Welt macht, in die er nach seinen ganz individuellen Umständen hineinwachsen und in ihr tätig sein kann. Dieses „persönliche Weltbild“ entsteht in seinem Gehirn. Neben seinen Fähigkeiten zur Wahrnehmung und Verarbeitung der Sinneseindrücke (Sensorik) helfen ihm dabei sein „angeborenes Wissen und Können“, das er entsprechend seiner genetischen Herkunft besitzt und nach den Herausforderungen seiner Umwelt einsetzen kann. Für ein wirkliches Verständnis der Verhaltensentwicklung des Hundes ist dabei wichtig zu verstehen, dass die Gesamtheit aller frühen Erfahrungen einschliesslich ihrer damit einhergehenden gefühlsmässigen Bewertungen gewissermassen zu einer benutzungs- und erfahrungsabhängigen Selbstprogrammierung des Gehirns führt. Sie bestimmt in weiten Bereichen das spätere Verhalten und Wesen eines Hundes. Wann dazu welche „Fenster“ wie lange geöffnet sind, hängt nicht nur von der natürlichen Abfolge der beteiligten Reifungsprozesse ab, sondern auch davon, welche Antriebe mit welcher Intensität durch die Veranlagung zur Entfaltung drängen. Das alles funktioniert naturgemäss aber nur dann, wenn der Welpe auf eine Umwelt trifft, die ihm den passenden Entwicklungsspielraum bietet.

In der freien Natur ist diese als Passung bezeichnete Übereinstimmung im Allgemeinen gewissermassen automatisch geregelt. Denn der Nachwuchs kommt dort zur Welt und passt sich dort ein, wo er auch später lebt und mit den vorgefundenen Umweltbedingungen zurechtkommen soll. Anders ist das bei unseren Hunden. Oft wachsen sie unter Umständen auf, die mit jenen, in welchen sie später leben sollen, relativ wenig zu tun haben. Nehmen wir beispielsweise einen Wurf wunderschöner Berner Sennenhunde, die in einer ruhigen und bilderbuchartigen idyllischen Berg landschaft aufwachsen durften. Sind sie bis zur Welpenabgabe von ihrem Züchter nicht ganz gezielt darauf vorbereitet, die unnatürlichen Zivilisationsreize einer Grossstadt zu ertragen, werden sie dort ein belastungsreiches Hundeleben führen müssen, das auch an seinem künftigen Besitzer nicht spurlos vorbeigehen wird. Selbstverständlich kommt es auch ganz wesentlich darauf an, mit welchem Wissen und Geschick der hoffnungsvolle Welpenbesitzer das tut, was es gerade am Anfang für eine gelingende Eingewöhnung und den Aufbau einer innerlich bereichernden Beziehung braucht. Hier sei auf den Sonderdruck „Spielend vom Welpen zum Hund“ als praxisorientierte Starthilfe für eine harmonische Partnerschaft hingewiesen (siehe Literaturhinweis). Unser Bemühen im vorliegenden Leitfaden konzentriert sich hingegen mehr darauf, weitere wichtige und bisher weniger bekannte Zusammenhänge vor Augen zu führen.

Innere und äussere Voraussetzungen

Damit ein Hund das wird, was er nach seiner Veranlagung in seinem Verhalten und Wesen sein kann, müssen seine Sinne rechtzeitig gefordert und damit die Entwicklung seines Gehirns frühzeitig gefördert werden. Entgegen verbreiteten Vorstellungen und falsch verstandenen Praktiken, besteht eine frühe Förderung aber nicht darin, dass die bisher üblichen Umgangsformen mit dem erwachsenen Hund einfach in das Welpenalter vorverlegt werden. Es geht auch nicht darum, dass Hunde in ihrer Ausbildung früher fertig gemacht werden können (im doppelten Sinn), um dann doch nur das gewohnte Niveau mit den bekannten (Wesens-)Mängeln zu erreichen. Und schon gar nicht ist es richtig, zu glauben, einem Welpen müsse alles Erdenkliche frühzeitig, also in den ersten 16 Lebenswochen eingetrichtert werden, damit er fürs Leben geprägt wäre (auch über das tatsächliche Geschehen der Prägung und prägender Lerneffekte haben wir umfangreich publiziert).

Der förderliche Einfluss, wie wir ihn auf der Grundlage wissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse dringend anraten, besteht vor allem darin, unseren heranwachsenden Hunden in der richtigen Reihenfolge und „Dosierung“ das zu geben, was sie ihrer Natur nach für eine gute Anpassungs- und Bewältigungsfähigkeit in einer Zivilisationsumwelt wirklich brauchen, ihnen aber im Allgemeinen unerkannt vorenthalten wird. Eine elementare und vielfältig wirksame Grundlage der Lebensbewältigung heisst emotionale Sicherheit. Sie entsteht beim Hund während des frühen Heranwachsens aus der Grunderfahrung von Geborgenheit und verlässlicher Fürsorge seitens des Fürsorgegaranten.

Und diese wird vom Geburtsgeschehen an durch die Hündin an ihre Welpen vermittelt, sofern sie instinktsicher ist und ihr dabei und im weiteren Brutpflegeverhalten vom Menschen nicht hineingepfuscht wird! Erst im Verlauf nach etwa zwei bis drei Wochen übernimmt – für die Welpen spürbar – der Züchter Teilleistungen des Fürsorgegaranten und bahnt damit bei ihnen die positive Einstellung auf das Artbild des Menschen an. So entsteht zwischen den einzelnen Welpen und ihrem Züchter immer mehr eine gefühlsmässige Beziehung, die Bindung genannt wird. Sie wird umso tragfähiger und damit sicherer, je abwechslungsreicher die zur Verfügung gestellte Entwicklungsumwelt ist und in ihr gemeinsam mit dem Züchter lustvolle Aktivitäten stattfinden. Vor der Welpenabgabe sollten dann – gewissermassen als „krönender Abschluss“ – mindestens ein oder zwei so genannte Betriebsausflüge arrangiert werden. Gemeint sind damit Ausflüge, bei welchen die Welpen im Schutz der Gemeinschaft mit den Geschwistern, der Hündin und des Züchters frei von unnötigen Ängsten ein Stück neue und fremde Umwelt erkunden und positiv erleben können.

Zu allem was die heranwachsenden Welpen in ihrem Innern brauchen, gehören auch die nötigen äusseren Voraussetzungen. Denn beispielsweise schränken die nasskalten und nur sehr kurzen Tage der „schlechten Jahreszeit“ (etwa November bis Februar) die Erlebnisund Lernqualitäten erheblich ein. Die naturgegebene Rhythmik im Jahreslauf hat zudem starken Einfluss auf die Aktivierung des Organismus von Mensch und Tier. Es ist ja kein Zufall, dass in der natürlichen Umwelt Jungtiere im Allgemeinen dann geboren werden, wenn sie die besten Voraussetzungen für ihre Entwicklung haben. In diesem Sinne ist es auch nicht verwunderlich, dass Heinz Weidt seit mehr als 25 Jahren einen Aufzucht-Abenteuerspielplatz für Welpen propagiert und dazu schliesslich noch spezielle Lernstrukturen entwickelt hat.

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