Michael und Sybille Fleischmann sind seit Juni 2010 unterwegs, um per Fahrrad ferne Länder zu bereisen. Ihr Ziel: Einmal um die Welt! Mit ihrem Rhodesian Ridgeback-Rüden Gomolf und der Mischlingshündin Diu sind sie von Deutschland bis nach Kambodscha gekommen, doch dort wartet die Tragödie: Gomolf stirbt an einer schweren Krankheit. Nun geht es weiter nach Vietnam – wie ist es, mit nur einem Hund zu reisen?
Text und Fotos: S. und M. Fleischmann
Ein Mopedfahrer überholt mich und schert nur um Haaresbreite wieder vor mir ein. An der Seite steht ein Transporter mit einer Kinderschar in Schuluniformen, die uns alle freudig zuwinken. Ein Mann am Strassenrand schreit «Hey!» und will, dass wir stoppen. Diu wird von einer kleinen Meute Strassenhunde verfolgt, ist aber viel schneller als die. Neben unseren Fahrrädern rennen ein paar Jugendliche her, die so lange wie möglich versuchen, das Tempo mitzuhalten. Ein Bus rast vorbei und betätigt mehrfach seine infernalisch-laute Hupe. – Das alles passiert in weniger als fünf Sekunden.
Willkommen in Vietnam!
Wo sind wir hier nur gelandet? Das Mekongdelta in Südvietnam ist wohl die belebteste Gegend, die wir je mit unseren Velos bereist haben! Vor vier Tagen sind wir über die Landesgrenze von Kambodscha gekommen und haben damit das sechzehnte Land dieser Reise betreten. Und seitdem scheint es von Leuten nur noch so zu wimmeln! Kein Wunder: In der «Sozialistischen Republik Vietnam» leben auf jedem Quadratkilometer im Schnitt 280 Personen – in Kambodscha sind es gerade mal 76. Gut, dass wir uns schon dort drüben in dieser quasi menschenleeren Gegend warmfahren konnten. Während unserer mehrmonatigen Pause im Städtchen Sihanoukville in Südkambodscha sind wir höchstens mal ein paar Kilometer mit unseren unbeladenen Rädern durch die Strassen geflitzt. Nun hatten wir wieder volles Gepäck und die Anhänger dabei. Das fühlte sich etwa so an, als steige man von einem agilen Rennpferd auf einen schwer beladenen Packesel um, der nicht einmal selbst laufen kann … aber doch spüren wir auch einen Unterschied zu früher, wo uns noch zwei Hunde begleiteten. Unser guter Gomolf wog immerhin 45 Kilo, stattdessen zieht Michael nun das 23-Kilo-Leichtgewicht Diu.
Was eigentlich eine Erleichterung ist, erinnert uns anfangs ständig an den grossen Verlust, den wir erlitten haben: Ich habe keinen Hund mehr in meinem Anhänger – nur Gepäck. Wann immer Michael stoppt, um Diu ein- und aussteigen zu lassen, muss ich mich daran erinnern, dass ich weiter rollen kann. Und auch das ist ungewohnt: Wenn unsere kleine Maus neben uns her läuft, können wir mit vier Augen auf den einen Hund achten und ihr beide die entsprechenden Kommandos geben, damit sie am Strassenrand und in unserer Nähe bleibt. Das ist jetzt um einiges einfacher als bisher, zumal sie uns ohnehin wesentlich besser folgt, seit der Grosse nicht mehr da ist. Als habe sie eingesehen, dass ihre Rolle nun nicht mehr die des kleinen, frechen Hundes an der Seite des braven, immer folgsamen Gomolf ist. Er liess Diu zwar oft vieles durchgehen, doch wenn es darauf ankam, zeigte er ihr, dass er der Stärkere war – letztendlich hatte sie also den niedrigsten Rang im Rudel und war so etwas wie die unerzogene Aussenseiterin. Doch nun musste sie sich nicht mehr von Gomolf und seinem «streberhaften Getue» abgrenzen, nun hatte sie seinen Platz eingenommen: als Hündin Nummer eins und damit auch als unsere wichtigste Beschützerin.
Eine neue Rolle für Diu
In den ersten Nächten kam uns Diu jedoch ziemlich klein und nicht besonders abschreckend vor. So fühlten wir uns in unserem grünen Tunnelzelt zunächst nicht so wohl, zumal wir ja eine ganze Weile wieder die Sicherheit eines eigenen Zimmers mit abschliessbarer Türe genossen hatten. Doch gleich am ersten Abend zeigte sich unsere treue Mischlingshündin hervorragend. Wir hatten lange nach einem guten Schlafplatz suchen müssen, um schliesslich eine vermeintlich perfekte Stelle zu finden: Direkt hinter einem riesigen Stapel aus Betonschwellen für Eisenbahnschienen, die hier neben der Strasse zwischengelagert waren. Doch leider bekamen wir kaum ein Auge zu, denn wir sahen unentwegt das flackernde Licht einer Taschenlampe. Als der nächtliche Besucher unserem Zelt zu nahe kam, sprang Diu heraus und jagte ihn mit lautem Gebell auf einen nahegelegenen Steinhaufen. Was waren wir stolz auf sie! Später stellte sich heraus, dass der Mann in den Ritzen zwischen den Betonschwellen auf der Suche nach Fröschen und anderem Getier gewesen war – fürs Abendessen. Fortan machte er einen grossen Bogen um uns und so konnten wir bald beruhigt wegdösen.
Die wertloseste Währung der Welt
Nach einigen Tagen eher gemütlicher Spazierfahrt durchs sehr vertraute Kambodscha, finden wir uns also recht plötzlich auf der vietnamesischen Seite des Mekongdeltas wieder, wo sich die Bewohner förmlich zu stapeln scheinen. Auch sonst hat Vietnam einige Überraschungen für uns zu bieten: «Ein Euro entspricht 27 500 Dong», liest Michael aus dem Reiseführer vor, als wir Geld wechseln wollen. – «Na wunderbar», antworte ich sarkastisch, «superhandliche Zahlen zum Umrechnen.» Später finden wir heraus, dass der vietnamesische Dong tatsächlich die wertloseste Währung weltweit ist. Für 200 Euro zahlt man mir in einer unterkühlten Bankfiliale ganze fünfeinhalb Millionen Dong aus! Danach fühlen wir uns wie echte Multimillionäre.
Der Vorteil der dichten Infrastruktur ist der, dass Essen und Getränke wegen der zahlreich vorhandenen Shops und mobilen Garküchen faktisch ständig verfügbar sind – wobei uns die vietnamesische Küche zu Beginn eher Kopfzerbrechen bereitet. «Nudelsuppe, Froschschenkel, Schnecken, getrockneter Fisch, Ratten… oh, was ist das? Eine Schlange!» Manchmal haben wir Glück und können kleine Baguettes kaufen – ein Überbleibsel aus der französischen Kolonialzeit. Sonst ist Nudelsuppe noch das kleinste Übel, nur mögen wir die nicht besonders, denn es finden sich immer so seltsame Sachen von brauner oder grauer Farbe und gummiartiger Konsistenz darin… es ist ein niemals endendes Ratespiel: Was esse ich hier gerade? Selbst Diu stöbert mit der Nase eher lustlos in unseren aussortierten Fleischresten herum. Früher hätte Gomolf mit Freude alles verputzt, was sonst keiner wollte – nun bleibt oft ganz schön viel übrig.
Chau Doc, unsere erste richtige Stadt in Vietnam. «Das Zimmer kostet sechs Dollar», erklärt uns die Dame an der Rezeption eines kleinen Hotels in schwer verständlichem Englisch, während sie uns skeptisch mustert. Der Preis ist gut, doch wir mussten noch die Katze – oder in diesem Fall den Hund – aus dem Sack lassen. «Wir haben einen ganz kleinen, sehr braven und ganz leisen Hund dabei… – darf der vielleicht mit ins Zimmer?» Die Frau verkneift ihr Gesicht noch mehr, wirft unserer Diu einen abschätzigen Blick zu, berät sich kurz mit ihrer Kollegin und sagt: «Dann kostet das Zimmer sieben Dollar.» – «Super!», meint Michael auf Deutsch zu mir, wählt aber einen neutralen Tonfall, der eher nach «So ein Mist» klingt. Wir wollen nicht zugeben, wie froh wir sind, dass wir Diu überhaupt mitnehmen dürfen. Dann beginnen wir, unsere Siebensachen über ein schmales, niedriges Treppenhaus drei Stockwerke nach oben zu tragen. Als ich mit der letzten Tasche in unserem Zimmer angekommen bin, begegnet mir eine Hotelangestellte, die mir einen vernichtenden Blick zuwirft: Überall auf dem Gang und der Treppe liegen kleine und grössere Erdklumpen. Die Spur führt direkt zu unserer Zimmertür und endet dort – Zweifel ausgeschlossen.
Diu muss als Sündenbock herhalten
Gestern haben wir auf einem kleinen Damm parallel zur Strasse übernachtet – das einzige Fleckchen weit und breit, das für unser Zelt in Frage gekommen war. Prinzipiell ein guter Platz, doch ein kräftiger nächtlicher Regenguss hatte die erdige Oberfläche in zähen Schlamm verwandelt. Schon beim ersten Schritt ins Freie waren wir in den weichen Boden eingesunken. Bald waren unsere Schuhe und Ausrüstung komplett von einer Schicht des klebrigen Matsches überzogen, die dort zu einer hartnäckigen Kruste trocknete – und erst wegbröselte, als wir Stunden später durchs Treppenhaus unserer Herberge in Chau Doc gingen. Als ich – völlig zu Recht – der Verschmutzung überführt wurde, schwankte ich zwischen Beschämung und Schuldgefühlen einerseits, hielt es aber andererseits auch für ein gewisses Grundrecht, als Hotelgast etwas Dreck zu verteilen. Ich versuchte eine entschuldigende Geste auf den Hund, doch die Reinigungsfrau drückte mir nur kommentarlos einen Putzlumpen in die Hand. Die Schuldgefühle siegten und ich entfernte das Gröbste, bevor ich mich endlich in unser Zimmer zurückziehen konnte. Höchste Zeit für eine Dusche!
Für unseren Aufenthalt in der 75 000-Einwohner Stadt Chau Doc hatten wir uns einiges vorgenommen: Der Einradanhänger, mit dem ich Diu von Deutschland bis Kambodscha gezogen hatte, hatte seine Berechtigung verloren und sollte in einem Paket auf den Weg nach Deutschland gebracht werden, zusammen mit diversen anderen Dingen, die wir momentan nicht benötigten: dicke Jacken, Socken und warme Unterwäsche (nein, es wird nicht mehr kalt!). Und nicht zuletzt eine Hundeleine, ein Brustgeschirr und den Impfpass von Gomolf. Das brauchen wir nicht mehr – ein bedrückender Moment.
Ich kupplte den Anhänger für eine letzte Fahrt an mein Rad, es ging zum Vietnam Post Office. Wir hatten uns sagen lassen, dass man seine Sachen dort ohne Karton abgibt – um die Verpackung würden sich die Angestellten kümmern. Es verspach, interessant zu werden. Tatsächlich beschäftigte unser Anliegen das komplette Personal der Postfiliale. Nur eine einzige Angestellte sprach ganz passabel Englisch – und es gab viel zu besprechen.
«Was ist das?», fragte die kleine Frau und deutete auf unser Sammelsurium aus Einradanhänger, Tüten und Taschen. «Nun … verschiedene Sachen …», antworteten wir vage. Doch es musste eine detaillierte, umfassende Inhaltserklärung ausgefüllt werden – auf Vietnamesisch! So begannen wir, wort- und gestenreich unsere «Wundersachen» zu erklären, während die nette Dame eifrig übersetzte. Eine andere Mitarbeiterin trug alles in ein grosses Formular ein. Erst als sie die Flexi-Hundeleine sahen, kamen sie ins Stocken: «Was ist das?»
Aerobic-Übungen mit der Hundeleine
Michael demonstriert den Automatik-Mechanismus mit ausladenden Armbewegungen: rein – raus, rein – raus. Die beiden Frauen imitieren ihn und bewegen rhythmisch die Arme hin und her, dann geht ihnen ein Licht auf: ganz klar – ein Muskeltrainer! Unter dem Gekicher aller Umstehenden diskutierten sie noch eine Weile, bis die Schriftführerin irgendetwas in die Liste eintrug. Wir wüssten zu gerne, was sie geschrieben hat.
Am Ende überliessen wir unsere weitgereisten Dinge mit gemischten Gefühlen den Verpackern, die aus zwei kleinen Kartons einen grossen basteln mussten – eine fragile Konstruktion. Dann löhnten wir schlappe eineinhalb Millionen vietnamesische Dong und drücken die Daumen: «Hoffentlich sehen wir all das noch einmal wieder», sagte Michael, während die Arbeiter das Paket schlossen.
Es dauert eine Weile, bis wir uns wieder imstande sehen, weiterzufahren. Ein Zwischenstopp in der «Zivilisation » – in diesem Fall das Hotelzimmer – bedeutet für uns die Möglichkeit, alle unsere Batterien aufzuladen – die echten und die sprichwörtlichen. Wir können unsere Wäsche waschen, Akkus befüllen, im Internet surfen … und auch mal eine Weile auf dem Bett faulenzen und gar nichts tun, ausser uns die Bäuche mit Süssigkeiten vollzuschlagen und unsere Diu zu streicheln, die ebenfalls nur untätig herumliegt.
Nach vier Tagen schliesslich schwingen wir uns dann aber doch zurück auf die Fahrräder, bereit, die Sicherheiten einer festen Unterkunft gegen die Freiheit des Reisens einzutauschen. Etwa 260 Kilometer vor uns liegt die grösste Stadt des Landes: Ho Chi Minh City, alias Saigon. Da wollen wir hin!