Michael und Sybille Fleischmann sind seit Juni 2010 unterwegs, um per Fahrrad ferne Länder zu bereisen. Ihr Ziel: Einmal um die Welt! Mit dabei: Rhodesian Ridgeback Rüde Gomolf und Mischlingshündin Diu. Exklusiv für das Schweizer Hunde Magazin berichten die Weltenbummler von ihren Erlebnissen. Eine Zugfahrt quer durch Kasachstan endet beinahe im totalen Chaos – und in der Stadt Almaty wartet der lange gefürchtete Winter.
Text und Fotos: S. und M. Fleischmann
Neunzehn Uhr vierzig – Noch zwei Stunden bis zur planmässigen Abfahrt des Zuges Aktau-Almaty. Die erste Hürde war schon mal geschafft: Wir hatten die Tickets für die Zugfahrt in der Tasche! Das kasachische Personal am Ticketschalter war ob unserer obskuren Anfragen zunächst etwas ratlos gewesen, doch es fand sich vergleichsweise rasch eine junge Frau, die sehr gut Englisch konnte. «Sie sind zwei Personen und zwei Hunde, also müssen Sie vier Tickets kaufen. Ein Ticket kostet 10 000 Tenge, die Fahrräder sind inklusive. Sie werden in einem extra Gepäckwagen verstaut.» Wir bezahlten also insgesamt 40 000 Tenge (rund zweihundert Euro) für die 3500 Kilometer lange Strecke nach Ost-Kasachstan und wähnten uns auf der sicheren Seite.
Zwanzig Uhr – Noch eine Stunde und vierzig Minuten bis zur Abfahrt. In einer Stunde würde der Zug eintreffen. Wir standen bereits am Bahnsteig, komplett mit Fahrrädern und Gepäck – die Hunde in den Anhängern verstaut. Ich hatte in einem kleinen Geschäft noch ein paar Vorräte für die drei Tage dauernde Zugfahrt eingekauft. Viele Menschen waren hier und warteten. Eine wachsende Gruppe 10- bis 20-jähriger Jugendlicher sammelte sich um uns und beäugte neugierig unsere Gespanne. Die Mutigsten unter ihnen näherten sich den Anhängern und versuchten, die Hunde zu berühren. Wir führten einfache Gespräche über unsere Herkunft, die Reise, die Hunde. Wir waren müde und überreizt. Heute Morgen erst waren wir nach kurzem Schlaf in Kasachstan eingereist. Die Formalitäten waren nervtötend und dauerten fast sieben Stunden. Trotzdem wollten wir schnell weiter. Mit dem Zug, denn das Land ist zu riesig, um es mit dem Fahrrad zu bewältigen.
Zwanzig Uhr dreissig – Noch eine Stunde und zehn Minuten bis zur Abfahrt. Die Jugendlichen, die uns immer dichter umringten, warteten nicht auf einen Zug. Sie machten aber keine Anstalten, uns alleine zu lassen – wir waren viel zu interessant. Ein Polizist kam vorbei und grüsste einige aus der Runde mit Handschlag. Eine seltsame Vertraulichkeit gegenüber den Kindern und Teenagern. Wir konnten uns des Eindrucks nicht erwehren, dass die Kids am Bahnhof Drogen verkaufen und der Polizist Schmiergeld von ihnen kassiert. Wir wurden langsam nervös. In einen Zug zu steigen ist für uns immer eine heikle Sache. Wir hatten insgesamt zwölf Gepäckstücke, zwei Fahrräder, zwei Anhänger und zwei Hunde. Beim Beladen des Zuges müssen wir extrem aufpassen, dass nichts verloren geht oder gestohlen wird. Während wir freundlich immer dieselben Fragen beantworteten, planten wir unser Vorgehen.
Einundzwanzig Uhr, planmässige Ankunft des Zuges – Noch vierzig Minuten bis zur Abfahrt. Der Bahnsteig war mittlerweile gedrängt voll von den wartenden Fahrgästen. Als der Zug eintraf, strömten alle eilig durcheinander. Auch wir setzten uns in Bewegung und suchten den Gepäckwagen. Wir mussten mehrere hundert Meter durch das Gedränge am Zug entlang laufen, bis wir endlich fündig wurden. Die Jugendlichen kamen natürlich mit. Sie wollten uns helfen – doch konnten wir ihnen trauen? Als Michael im Gepäckwagen nach einem Platz für die Fahrräder suchte, erschien der zuständige Arbeiter und verlangte von uns umgerechnet rund 250 Euro Gebühr – pro Fahrrad. Versuche einer Verhandlung scheiterten kläglich. Erbost kehrten wir dem Mann den Rücken und schoben unsere Gespanne davon. Die Jugendlichen kamen mit.
Wir diskutierten aufgeregt, was nun zu tun sei. «Wie spät ist es?», schoss mir plötzlich durch den Kopf. Ich sah auf meine Uhr, 21:42 Uhr. «Der Zug fährt jeden Moment los!» schrie ich Michael zu.
Wir liefen so schnell wir konnten zu unserem Wagen. Michael sprang rein und wir stopften ohne Umstände sein komplett beladenes Fahrrad und einen Anhänger in die offene Tür. Die Jugendlichen halfen mit. Drei Kondukteurinnen versuchten tatkräftig, uns davon abzuhalten.
Einundzwanzig Uhr fünfundvierzig – Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Michael war mit der Hälfte unserer Sachen im Zug, ich mit den Hunden und der anderen Hälfte draussen. Ich lief mit meinem Rad neben dem rollenden Zug her und wusste nur: Ich muss da irgendwie rein. Die Jugendlichen liefen mit und schleppten den zweiten Anhänger.
Michael versuchte drinnen, die Notbremse zu ziehen. Drei Frauen und ein Mann vom Zugpersonal rissen seinen Arm weg und schlugen auf ihn ein, um es zu verhindern. Der Zug rollte immer schneller. Ich rannte mit dem Rad nebenher, auch die Hunde liefen mit. Bald würde der Zug einfach an uns vorbei rollen – was dann passierte, wollte ich mir gar nicht ausmalen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit erbarmte sich eine Kondukteurin und riss an der Notbremse. Der Zug blieb stehen, Gomolf und Diu sprangen schnell hinein. Wir stopften das zweite Fahrrad unter dem Geschrei sämtlicher Beteiligten in den Eingangsbereich des Wagens. Es war kein Platz mehr, wir mussten mit aller Gewalt nachschieben. Gepäckstücke lösten sich vom Rad und fielen auf die Schienen. Die Jugendlichen warfen sie von draussen in den Zug, der sich schon wieder in Bewegung gesetzt hatte. Das Letzte was ich sah, waren drei der Jungs, die draussen mit unserem zweiten Anhänger den Zug entlang rannten. Hier war kein Platz mehr dafür, also stopften sie ihn in irgendeine andere Tür, die noch offen stand.
Dreiundzwanzig Uhr – Wir hatten all unser Hab und Gut in unserem winzigen Abteil untergebracht. Sämtliches Zugpersonal hatte lange und in sämtlichen Sprachen auf uns eingeredet. Sie wollten uns weismachen, die Räder im Abteil seien verboten, ausserdem Hunde über 20 Kilo nicht erlaubt, das Gepäck zu schwer, die Anhänger ein Problem… Doch nach dem, was wir gerade erlebt hatten, waren wir nicht mehr aus der Ruhe zu bringen. Endlich ging auch der letzte mit einem Schulterzucken davon. Und wir waren einfach nur froh, dass wir komplett und unversehrt in diesem Zug waren.
Verglichen mit den Aufregungen beim Einsteigen verlief die restliche Zugfahrt ziemlich ruhig. Sie war geprägt von regelmässigen Stopps; diese waren zwar unterschiedlich lang, boten jedoch immer genug Zeit, um mit den Hunden eine kleine Runde über den Bahnsteig zu laufen. Oft hatte sich eine Reihe fliegender Händler eingefunden, die mit dicken Jacken und Mützen bekleidet ihre Waren darboten: warme Mahlzeiten aus Thermobehältern, kalte Getränke, Zigaretten. Wir richteten uns so gut es ging in unserem kleinen Abteil ein und machten auch Bekanntschaft mit anderen Fahrgästen: Kasachen, Russen und Aserbaidschaner waren unterwegs, um zu arbeiten, oder kehrten gerade zu ihren Familien zurück. Gomolf und Diu waren die heimliche Attraktion im Zug, oft bekamen sie ein Stück Fleisch zugesteckt oder wurden ausgiebig gestreichelt. Menschen, die kein Englisch sprechen, fragten uns pantomimisch, ob sie oder ihre Kinder Gomolf anfassen dürfen. Manche hatten auch Angst vor den Hunden und gingen uns lieber aus dem Weg – doch insgesamt wurden wir sehr freundlich behandelt.
Winter in Almaty
Als unser Zug endlich in der Stadt Almaty, der Endstation für diese Fahrt, einrollte, warteten neue Herausforderungen auf uns. Es war um einiges kälter geworden, denn Almaty lag 700 Meter höher als Aktau im Westen. Wir mussten einen Schlafplatz finden und das Visum für China beantragen; das würde aber frühestens nach dem Wochenende möglich sein. Aus Ermangelung an Alternativen schlugen wir unser Zelt mitten in einem Stadtpark auf und bekamen bald zu spüren, wie sich kasachische Dezembertage anfühlen, wenn man keine vernünftige Unterkunft hat.
Es gab nur drei Möglichkeiten, nicht zu frieren: komplett angezogen und in Bewegung sein, in ein Café oder Geschäft flüchten oder im Zelt in den Daunenschlafsack kriechen. Bei allen anderen Tätigkeiten kroch die Kälte sofort und unbarmherzig in den Körper, machte zuerst die Zehen taub, dann die Finger, schliesslich Nase und Ohren. Nun war geschehen, was wir so lange befürchtet hatten: Der Winter hatte uns erwischt, sprichwörtlich eiskalt. Es gab zwar noch keinen Schnee, doch tagsüber lagen die Temperaturen um den Gefrierpunkt, nachts bei etwa minus zehn Grad. Und dann wurde ich auch noch krank.
Grippe und kein Visum
Am Samstag war ich mit starken Halsschmerzen aufgewacht. Am Sonntag lag ich mit Fieber und einem grässlichen Gefühl in den Gliedern flach, ausserstande, den Schlafsack oder gar das Zelt zu verlassen – eine richtige Grippe. Am Montag mussten wir unser Lager abbauen und ins Botschaftsviertel fahren, für mich ein Kraftakt. Es trieb mich allein die Motivation, keine Zeit zu verlieren, um so schnell wie möglich nach Südchina zu kommen, dort würde es wärmer werden.
Nach mehreren Stunden kehrten wir unverrichteter Dinge in den Stadtpark zurück und bauten das Zelt wieder auf – die Enttäuschung hätte nicht grösser sein können. Der chinesische Beamte hatte auf unsere Frage nach einem Visum so reagiert, als hätten wir an der Käsetheke nach einer Schweinshaxe gefragt. Er verwies uns an den einzigen Mitarbeiter, der ein wenig Englisch konnte. Von ihm erfuhren wir, dass hier neuerdings für Ausländer keine Visa mehr ausgestellt werden, nur für Kasachen.
Ich verkroch mich wieder in meinen Schlafsack und überliess Michael die Suche nach irgendeiner Möglichkeit, um hier weg zu kommen. Am späten Abend kehrte er mit deutlich besserer Laune zurück: «Ich hab uns ab morgen eine Unterkunft organisiert!», erklärte er freudig, «ausserdem weiss ich jetzt wie wir unsere Visa bekommen.»
Warmer Unterschlupf
Als der Schneefall einsetzte, dauerte es nur kurze Zeit, bis unsere Fahrräder kaum mehr zu sehen waren – so dick war die Schicht weisser Flocken. Glücklicherweise konnten wir uns das Spektakel durch ein Fenster aus der warmen Stube heraus ansehen: Wir wurden von einem jungen Künstler beherbergt, den Michael aufgetrieben hatte. Nicolays Zuhause hatte den Charme einer Studentenbude. Der Schlafraum war so winzig, dass unsere Matten gerade so auf dem Boden Platz fanden. Das andere Zimmer diente als Aufenthaltsraum, Küche und Bad. Es gab ein Waschbecken, einen Tisch und drei Stühle, einen uralten Kühlschrank und einen halben Stuhl, auf dem eine verkrustete Kochplatte stand. Als Ablagefläche diente ein Stapel Autoreifen in der Ecke. Nachts raschelten die Mäuse unter dem Kühlschrank und tagsüber gingen Arbeiter ein und aus, um Wasser zu holen. Die Aussentoilette war ein Holzverschlag mit Loch im Boden, auf dem zwei wackelige Balken für die Füsse lagen – nicht ganz ungefährlich, wenn es dunkel war.
Für uns war diese Bleibe das Beste, was uns hatte passieren können. Wir hatten nicht nur Strom und fliessend Wasser, vor allem war es warm und wir mussten keine Angst um unser Hab und Gut haben. Auch Gomolf und Diu konnten auf ihrer Matte in der Ecke neben dem Heizkörper besser entspannen als im kalten Stadtpark. Wir hatten mittlerweile den einzigen möglichen Weg eingeschlagen, um an ein Visum für China zu kommen: Mit viel Herzklopfen schickten wir unsere Pässe nach Berlin zu einer Visa-Agentur. Diese würde die begehrten Aufkleber in der chinesischen Botschaft in Deutschland beantragen.
Es klappte tatsächlich und wir hielten schon eine Woche später unsere Pässe wieder in den Händen – doch an eine Weiterreise war noch nicht zu denken. Nachdem Michael meine Grippe übernommen und auskuriert hatte, wurde er von starken Zahnschmerzen geplagt. Es wurde nur vorübergehend besser, als er sich mit blossen Händen seine Brücke entfernte. Die nächste Hiobsbotschaft erreichte uns, als wir versuchten, einen Zahnarzt aufzutreiben: Die folgenden vier Tage waren Feiertage anlässlich der Unabhängigkeit Kasachstans. Wir konnten nur hoffen, dass unser Vorrat an Schmerzmitteln so lange reichte.
Wir verlebten eine bange Zeit hier an einem der härtesten Punkte unserer Reise. Nicht nur unsere Gesundheit, die Kälte und der Gedanke an eine weitere Zugfahrt machten uns Sorgen. Bei einer Einreise nach China per Flugzeug müssen Hunde normalerweise mindestens einen Monat in Quarantäne. Wie es an den Landgrenzen aussah, wussten wir nicht – doch wir würden es mit Sicherheit bald herausfinden.
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