«Hundejungen» und «Wolfsmädchen» – Kinder, aufgewachsen unter Hunden und Wölfen

Geschichten über Kinder, die statt unter ihresgleichen unter Wölfen oder Hunden aufgewachsen sind oder sein sollen, gibt es seit Menschengedenken. Was geschieht mit dem Kind, das unter Tieren gross wird? Eine Spurensuche.

 

Es ist an einem nicht näher bestimmten Tag Mitte Juli 1998: In die Ecke gedrängt, geht das kleine Wesen knurrend in die Falle. Es ist kein leichter Fang, im Gegenteil: Das Wesen ist das Alphatier einer Hundemeute, die es mit Zähnen und Klauen verteidigt. Dreimal ist es den Moskauer Polizisten schon durch die Lappen gegangen. Doch dieses Mal ist es anders: Getrennt von seinem Hunderudel, findet Ivans Leben auf der Strasse ein jähes Ende, sein Leben als «Hundejunge von Moskau».

 

Erste Spuren

Ivan ist ein sogenanntes «wildes Kind» oder «Wolfskind». Der Begriff «Wolfskind» geht auf Rudyard Kiplings «Dschungelbuch» zurück und den in ihm vorkommenden Protagonisten «Mowgli», der bei Wölfen im Dschungel aufwächst. Heute bezeichnet man allgemein Kinder, die auf sich selbst gestellt in der Wildnis oder auf der Strasse überleben, als Wolfskinder. Manche von ihnen tun dies in der Gemeinschaft von Hunden oder Wölfen, sind also im wahrsten Sinne des Wortes Wolfskinder. Sofort stellt sich die Frage: Wolf und Hund als «Ziehmutter»? Ist das überhaupt möglich?

Um dieser spannenden Frage nachzugehen, begeben wir uns auf die Spuren der Kinder, die unter Wölfen und Hunden gelebt haben sollen. Wölfe sind, gemessen an der Zahl der Überlieferungen von Kindern, die unter die Tiere geraten sein sollen oder sind, die häufigsten «Ersatzmütter». Nun, wer kennt sie nicht, die Geschichte von Roms späteren Stadtgründern Romulus und Remus, die laut der Legende nach ihrer Aussetzung als Säuglinge von einer Wölfin adoptiert und gesäugt worden sind? Romulus und Remus sind quasi die Vorfahren des vermutlich ersten «echten» Wolfskindes – womöglich handelte es sich sogar um zwei Fälle –, von denen Chroniken aus dem Mittelalter berichten.

1344 findet man in Hessen einen Jungen im Alter von drei Jahren, dessen «Zieheltern» Wölfe gewesen sein sollen. Das Kind hat das Verhalten der Zieheltern übernommen: Es läuft mit beachtlicher Geschwindigkeit auf allen vieren und vollführt weite Sprünge. Nach dem Fund werden ihm Holzschienen angelegt, um es zu einer menschlichen Fortbewegungsart zu zwingen. Bald beherrscht der Junge nebst dem aufrechten Gang auch die menschliche Sprache. Er teilt mit, dass er sich in seiner tierischen Gesellschaft sehr wohlgefühlt habe und diese der menschlichen vorziehe.

Ist dem Kind ein Missgeschick unterlaufen und hat es sich im Wald verlaufen? Oder haben die Eltern es ausgesetzt? Zeitgenossen fragen sich auch: Wenn die Geschichte stimmt, ist das Kind, das sich wie ein Tier benimmt, überhaupt ein Mensch wie du und ich? Entdecker reisen nämlich in entlegene Ecken der Erde, wo sie wilde Naturmenschen, «Indianer», finden und Tiere, die dem Menschen unglaublich ähnlich sehen, die Menschenaffen. So kann man sich schon fragen: Sind das am Ende wirklich alles Menschen?

 

Victor unter der Lupe

Es ist das Zeitalter der Aufklärung und die Menschen interessieren sich brennend für solche «Naturgeschöpfe». Der schwedische Naturwissenschaftler Carl von Linné vermutet in den Wolfskindern eine Unterart des Homo sapiens und katalogisiert sie in seinem biologischen Klassifikationssystem «Systema Naturae» von 1758 als Vertreter der Spezies Homo ferus, also «wilde Menschen».

Wenige Jahre später betritt zum Entzücken der Fachleute eines der wohl berühmtesten «Wolfskinder» die Bühne: Victor von Aveyron. Das wilde Kind wird 1797 in einem Wald in Südfrankreich entdeckt und wenige Jahre später gefangen genommen. Anfangs schnüffelt der Junge an allem Essbaren, ehe er es isst, und das sind anfangs nur Kartoffeln, Nüsse und Kastanien. Er spricht nicht und starrt öfters stundenlang ins Leere.

Einige Fachleute tun den Jungen daher als Schwachsinnigen ab. Andere hoffen in ihm den Menschen in seinem Naturzustand gefunden zu haben – und mit ihm den Schlüssel zu dem Geheimnis, ob bei der menschlichen Entwicklung die Umwelt oder das Erbgut das Sagen hat und wie die «Menschwerdung» vor sich geht. Gleichfalls hofft man durch das «Studium» Victors die Unterschiede zwischen den «zivilisierten» Weissen und den «wilden Indianern» aus Übersee zu ergründen, denen man vollwertiges Menschsein nur skeptisch zutraut.

Der Arzt und Taubstummenlehrer Jean-Marie Itard nimmt sich des Kindes an und versucht den Jungen, den er Victor nennt, nach und nach an die Gesellschaft zu gewöhnen. Doch das Experiment scheitert. Immer noch stumm und halbwild, stirbt Victor 1828 im Alter von etwa vierzig Jahren. Der französische Filmemacher François Truffaut setzt ihm mit seinem Film «L’enfant sauvage» 1970 ein Denkmal.

Bis heute streiten sich Fachleute, ob Victor geistig behindert oder durch die Isolation in der Wildnis zurückgeblieben war. Moderne Forscher tippen bei Wolfskindern auf Autismus, so der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim, der den wohl berühmtesten Fall «echter» Wolfskinder des 20. Jahrhunderts, den Fall der kleinen Inderinnen Amala und Kamala, studierte.

 

Sternstunde der indischen Wölfe  

1942 veröffentlicht der amerikanische Anthropologe Robert Zingg ein Büchlein, in dem ein gewisser Reverend Joseph Singh über den Fall zweier kleiner Mädchen berichtet, die in Ostindien bei Wölfen in einer Höhle gelebt haben sollen. Singh hat im Oktober 1920 vernommen, dass es in der Nähe eines kleinen Dorfes spuken soll. Am Ort des angeblichen Spuks findet er zwar keine Geister, dafür zwei völlig verwilderte Mädchen, die mit einer Wolfsfamilie in einem verlassenen Termitenhügel hausen. Singh und seine Helfer holen die Mädchen aus dem Wolfsbau und er bringt sie in sein Waisenhaus in Midnapore.

Singh hat keine Zweifel, dass es sich bei den circa anderthalb- und achtjährigen Mädchen, die er Amala und Kamala tauft, um echte Wolfskinder handelt. Sie essen und trinken wie Wölfe und bewegen sich auf Händen und Füssen fort, sie meiden das Tageslicht, verweigern Kleidung und zeigen eine Vorliebe für rohes Fleisch und Aas. Menschliche Laute geben sie keine von sich. «Die einzigen Laute, die wir von ihnen hörten, waren ein eigenartiges Schreien oder Heulen im Dunkeln der Nacht», schreibt Singh in seinem Bericht.

Manche halten Singhs Bericht über den Fund der Kinder im Wolfsbau für eine glatte Lüge. Sie schreiben das Verhalten der Kinder – deren Existenz durch Fotos und Augenzeugenberichte bewiesen ist – nicht dem Leben bei Wölfen, sondern angeborenem Schwachsinn zu. Singh wehrt sich dagegen. Er ist der Meinung, dass das wilde Verhalten der Mädchen dem Leben unter Wölfen angepasst sei.

Sicher ist: Amala und Kamala können sich nur begrenzt an ihre neue Umgebung im Waisenhaus anpassen. Amala wird schwer krank und stirbt ein Jahr nach ihrer Gefangennahme, Kamala überlebt dieselbe Krankheit und lebt weitere acht Jahre. Sie lernt auf zwei Beinen zu stehen, sie mag rote Kleider und Puppen und spricht einige Sätze. Laufen tut sie jedoch bis zu ihrem verfrühten Tod am 14. November 1929 weiterhin meistens auf allen vieren.

Amala und Kamala sind wohl die berühmtesten, aber nicht die ersten indischen Wolfskinder. Schon 1852 erregt eine kleine Broschüre mit dem Titel «An Account of Wolves Nurturing Children in Their Dens» (Ein Bericht über Wölfe, die Kinder in ihren Höhlen aufziehen) einiges Aufsehen. Autor ist ein Kolonialoffizier namens William Henry Sleeman. Sleeman skizziert sechs Wolfskindfälle, die ihm zu Ohren gekommen sind. Die Fälle weisen insofern ähnliche Züge auf, als dass kleine Kinder aus der (manchmal auch nur vermuteten) Gesellschaft von Wölfen «errettet» und in die Zivilisation gebracht werden. Sie lernen kaum je normal sprechen, bewegen sich äusserst behände auf allen vieren fort und essen am liebsten rohes Fleisch.

Wahr, erfunden oder nur ausgeschmückt? Die Meinungen der Fachleute gehen auseinander. Fest steht: Teile von Indien sind damals dicht bewaldet und von schakalähnlichen Wölfen besiedelt. Zeitzeugen bestätigen, dass hungrige Wölfe in menschliche Siedlungen vordringen und gelegentlich mit einem Baby im Maul im Dschungel verschwinden. Keine Seltenheit auch, dass sich Kinder im Urwald verirren oder dort ausgesetzt werden und unter die Tiere geraten. Werden sie wiedergefunden, blieben sie meist zeitlebens Aussenseiter, für immer gezeichnet von dem Leben ausserhalb der Zivilisation.

 

Europäischen Wolfskindern auf der Spur

Auch das europäische Wolfskind Marcos Rodriguez Pantoja schafft die Rückkehr in ein normales Leben nie ganz. Marcos ist sieben Jahre alt, als sein Vater ihn 1953 an einen Grossgrundbesitzer verkauft. Der schickt den Jungen in ein abgelegenes Tal der andalusischen Sierra Morena zu einem Hirten. Nach einem halben Jahr verschwindet der alte Mann, der ihn in das Hirtendasein einführt und Marcos ist auf sich alleine gestellt. Er freundet sich mit einem kleinen Wolf an, den er erst für einen Hund hält. Durch seine Freundschaft mit «Lobito» (Wölfchen) wird er in ein Wolfsrudel aufgenommen. In den folgenden Jahren jagt und lebt Marcos mit den Wölfen, spielt und heult mit ihnen – bis zu dem Tag, an dem alles jäh zu Ende geht.

Die Guardia Civil schnappt den «Wilden aus der Sierra Morena» und bringt ihn in ein Kloster. Seine Haut ist sonnengegerbt, das Haar reicht bis zu den Hüften und er ist der menschlichen Sprache kaum noch mächtig. Der inzwischen neunzehnjährige Bursche muss Militärdienst leisten und schlägt sich fortan mit Gelegenheitsjobs durch. Obschon er wieder sprechen lernt, kann er sich nie mehr voll in die Gesellschaft integrieren.

Die meisten modernen Wolfskinder sind wie Marcos nicht von Wölfen verschleppt oder durch ein Missgeschick im Dschungel verschwunden. Mit der Moderne schwinden nämlich die Wälder und mit ihnen die Wölfe. Zunehmend werden Städte und kleindörfliche Gemeinschaften, in denen es typischerweise Hunde statt Wölfe gibt, Schauplatz von «Verwilderung». Angesichts der nun folgenden Kinderschicksale ist es allerdings eher passend, statt von Verwilderung von Verwahrlosung zu sprechen.

Ivan, der «Hundejunge von Moskau», ist ein Wolfskind der heutigen Zeit. Er verwahrlost inmitten einer Millionenmetropole. Vor zwanzig Jahren verlässt der damals Vierjährige sein von Alkoholismus und Gewalt beherrschtes Zuhause und wird zum Strassenkind. Ivan bettelt bei Menschen um Essen und gibt einen Teil davon einem Hunderudel ab. Die Hunde beschützen den Jungen und wärmen ihn in den klirrend kalten russischen Winternächten, bis Ivan von der Polizei geschnappt wird. Er hat Glück im Unglück: Da er nur zeitweilig auf der Strasse gelebt hat, lernt er wieder sprechen und kann sich in die Gesellschaft integrieren.

Besonders bekannt wird auch der Fall von Oxana Malaya, die 1991 als völlig verwahrloste Achtjährige von Sozialarbeitern in einem Hundezwinger in der Ukraine entdeckt wird. Eines Nachts lassen die alkoholkranken Eltern das Kind im Freien. Es kriecht zu den Hunden in den Zwinger, wo es sechs Jahre lang bleibt. Oxana imitiert die Hunde, geht auf allen vieren, teilt ihre Bedürfnisse bellend mit und schlappt Nahrung nach Hundemanier vom Boden auf. Nach ihrer Befreiung kommt sie in ein Heim für behinderte Kinder. Oxana bleibt handicapiert, lernt aber sprechen und aufrecht zu gehen. Heute kümmert sie sich um Farmtiere.

Im Juni 2001 macht das Schicksal des chilenischen «Hundekindes» Alex weltweit Schlagzeilen. Im Alter von fünf Monaten wird der kleine Junge von seiner Mutter verlassen und verlebt eine zerrüttete Kindheit. Mit elf schliesst er sich einer wilden Hundemeute an und ist lokalen Kaufleuten fortan als «Hundejunge» bekannt. Nach etlichen Monaten wird Alex von der Polizei aufgegriffen. Er ist sehr aggressiv und knurrt jeden an, der sich ihm nähert. Wieder im Kinderheim, bekommt Alex die Aufgabe, seine Familie zu malen. Er zeichnet ein Hunderudel.

Wie Alex soll auch der Rumäne Traian Caldarar unter Hunden gelebt haben. 2002 findet ein Hirte im Wald einen nackten, abgemagerten Jungen, der neben einem Hundekadaver am Boden kauert. Das Kind wird in ein Krankenhaus gebracht und bekommt den Spitznamen «Mowgli». Der siebenjährige Junge hat die Grösse eines Dreijährigen und spricht nicht, sondern verständigt sich mit Bell- und Knurrlauten. Während einer Nachrichtensendung identifiziert seine Mutter den Jungen. Sie gibt an, vor ihrem prügelnden Ehemann geflohen zu sein. Traian sei wohl später aus demselben Grund von zu Hause ausgerissen…

Nochmals zurück nach Russland: 2004 entdecken Sozialarbeiter in einer Wohnung in Sibirien den siebenjährigen Andrej Tolstyk. Der Junge kann nicht sprechen, läuft auf allen vieren und beschnüffelt alles Essbare, bevor er isst. Berichten zufolge hat seine Mutter die Familie wegen der Alkoholsucht des Vaters verlassen und den Säugling in dessen Obhut zurückgelassen. Wenig später macht sich der Vater ebenfalls aus dem Staub. Zurück bleiben Andrej und der Wachhund der Familie. Andrej soll später gelernt haben, auf zwei Beinen zu gehen, Messer und Gabel zu benutzen und sein Bett zu machen.

Ebenfalls in Sibirien finden Sozialarbeiter 2009 in einer völlig verdreckten Wohnung das fünfjährige Mädchen Natascha, das bellt und sich auch sonst wie ein Hund verhält. Natascha kommt in ein Kinderheim. Dort springt sie bellend gegen die Tür, wenn die Betreuer das Zimmer verlassen. Mit anderen Kindern spielt sie nicht. Die Eltern haben die «Erziehung» des Mädchens offenbar ihren Hunden und Katzen überlassen. Die Hunde führten sie übrigens regelmässig spazieren – Natascha kam nie nach draussen.

Zum Schluss noch Madina: Als Sozialarbeiter die Dreijährige 2009 in einer Wohnung in Ufa in Zentralrussland finden, treffen sie auf ein Kind, das auf allen vieren geht und mit den Hunden an Knochen knabbert. Ihre alkoholkranke Mutter hat sich kaum um sie gekümmert. Das Kind beherrscht nur zwei Worte: «Ja» und «Nein».

Die Beispiele von Ivan, Oxana, Natascha, Madina und den anderen Wolfskindern führen zu einer «Urfrage» der Wolfskindthematik zurück, nämlich: Wie viel Tier steckt im Mensch und wie viel Mensch im Tier? Eine Frage, zu der Wissenschaftler bis heute trotz intensiver Forschung keinen Konsens finden konnten.

Text: Eveline Schneider Kayasseh

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geschrieben von:
Eveline Schneider-Kayasseh

Eveline Schneider-Kayasseh

Tiere bedeuteten Eveline Schneider Kayasseh schon in ihrer frühesten Kindheit enorm viel und gehören bis heute zu ihrem Alltag. Die studierte Juristin promovierte mit einer Dissertation zum Thema «Haftung bei Verletzung oder Tötung eines Tieres» und befasst sich neben ihrem Berufsleben in der Wissenschaft auch als freie Autorin vor allem mit den Themen Mensch-Tier-Beziehung, Tierrechte und Tierschutz aus einer schweizerischen und internationalen, historischen und aktuellen Perspektive.

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