Es war einmal die vererbte Rudelstellung…

Sehr überrascht, aber vor allem auch beruhigt war ich, als ich erfuhr, dass der Mythos «vererbte Rudelstellungen» die Landesgrenzen der Schweiz noch nicht erreicht beziehungsweise überwunden hat. In Deutschland springen derzeit nämlich sehr viele Hundehalter auf den Zug bzw. die Seminare der «Erfinderin» Barbara Ertel auf, die wissenschaftlich jeglicher Grundlage entbehren. Das Schöne an dieser Theorie ist offenbar, dass man als Halter nicht den Fehler bei sich suchen muss, wenn es im Zusammenleben von Mensch und Hund nicht ganz rund läuft, sondern schlichtweg den falschen Hund erwischt hat. Eigenverantwortung ade!

 

Bei den vererbten Rudelstellungen handelt es sich um ein angeblich uraltes «Geheimwissen», das von Barbara Ertel verbreitet wird und bei vielen Hundehaltern auf offene Ohren stösst. Das, obwohl namhafte Forscher und Wissenschaftler wie zum Beispiel Dr. Dorit Feddersen-Petersen, Dr. Udo Ganslosser, Günther Bloch und viele andere deren Existenz abstreiten.

 

Die Geburtsposition als selbsterfüllende Prophezeiung?

Eine zentrale Aussage der Rudelstellungslehre ist, dass das «Instinktwesen» Hund nur glücklich werden kann, wenn der Mensch möglichst nur eine untergeordnete Rolle in seinem Leben spielt. Demnach gibt es bei Hunden exakt sieben genau definierte Positionen und Aufgabenbereiche, die aufgrund der jeweiligen Vererbung unumstösslich deren Leben, Wesen und Verhalten bestimmen. Demgemäss können angeblich mehrere Hunde nur dann harmonisch zusammenleben, wenn sie gemäss ihrer angeborenen und damit genetisch fixierten Stellung im Rudel mit Artgenossen zusammenleben dürfen. Angeblich könne man bereits am ersten Lebenstag der Welpen, wenn man sie nebeneinander liegen sieht, ihre lebenslange Position im späteren Rudel erkennen.

Da ist dann die Rede vom vorrangigen Leithund (VLH), vom mittleren Bindehund (MBH), vom nachrangigen 3. Bindehund (N3) oder vom nachrangigen Leithund (NLH). Anhänger der Rudelstellungstheorie zeichnen sich dadurch aus, dass die Namen der Hunde unpersönlichen Kürzeln wie MBH oder N2 weichen. Die Theorie besagt, dass man durch die Kenntnis der jeweiligen Stellung (es gibt teure Workshops zur Einschätzung der Hunde) alle Probleme lösen könne, und sei es durch den einfachen Umtausch des Hundes auf der Tauschbörse des Vereins. «Biete VLH, suche MBH», lauten dann die entsprechenden Anzeigen. Einen «Fehl-» oder «Doppelbesatz» abzugeben ist ja auch viel einfacher, als die geliebte Mia einzutauschen, mit der man seit fünf Jahren sein Zuhause teilt. Und einen Hund abzugeben, weil man an der genetisch festgelegten Rudelposition nichts ändern kann, ist einfacher, als sich selbst und den Umgang mit dem Hund beziehungsweise den Hunden zu hinterfragen und entsprechend zu ändern.

Vielleicht findet das Konzept der Rudelstellungen deshalb so viel Zulauf, weil es in unsere Zeit und unsere Gesellschaft passt? Weil viele Hundehalter, deren Erwartungen an den Hund nicht erfüllt werden, lieber den einfachen, angeblich wissenschaftlich abgesegneten (so wird es auf der Homepage des Vereins suggeriert) Weg gehen, als sich der Herausforderung Hund zu stellen? Und selbst wenn es in einer Mehrhundehaltung keinerlei Probleme gibt, sondern die Hunde offensichtlich rundum harmonisch zusammenleben, wird auf Seminaren zum Thema Rudelstellungen behauptet, dass der Schein trüge und die Hunde in Wirklichkeit sehr unzufrieden und unglücklich seien, weil eben die Rudelstellungen nicht zusammenpassen.

Wäre es nicht so traurig und würden nicht so viele Hundehalter an diesen Unfug glauben, könnte man darüber lachen…

 

Keine Kontakte nach aussen

Aber nicht nur die sieben genetisch festgelegten Stellungen kennzeichnen die Theorie, nein, es werden auch andere, in meinen Augen gemeingefährliche «Tipps» gegeben: Die Hunde dürfen keinesfalls Kontakt zu Fremdhunden haben und sollen keinen Aussenreizen ausgesetzt werden, denn das bringt die Stellung im Rudel durcheinander. Training, Erziehung und Spiel sind ebenso schädlich wie der Umgang des Menschen mit dem Hund. Was hat sich die Evolution die letzten Tausende von Jahren geirrt! Lebt doch kein anderes Haustier so eng mit dem Menschen zusammen wie der Hund, der sich seinerzeit dem Menschen anschloss, um Teil seiner Gesellschaft zu werden. Und welch’ Irrtum und Versehen, dass Hunde spielen, weil sie dabei fürs Leben lernen und ihre kommunikativen Talente ebenso trainieren wie die Flexibilität in neuen Situationen und die Routine in den Abläufen des täglichen Hundelebens.

 

Über die Persönlichkeitseigenschaften von Hunden

Ja, es gibt sie: verschiedene Persönlichkeitstypen bei Hunden. Eine grobe Einteilung hierzu wären der vorwärts orientierte, wagemutige und aktive A-Typ und der eher zurückhaltende, scheue und beobachtende B-Typ. Oder die Persönlichkeitsachsen der sogenannten Big Five, die – abgeleitet aus der Humanpsychologie – die fünf Faktoren Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für neue Erfahrungen und die Verträglichkeit beurteilt (der fünfte Faktor der Gewissenhaftigkeit konnte auf Hunde noch nicht übertragen werden). Und noch einmal Ja: Diese Persönlichkeitseigenschaften haben auch eine gewisse, wenn auch geringe Erblichkeit (je nach Eigenschaft um die 20%). Aber inzwischen sollte sich herumgesprochen haben, wie viel Anteil die unbelebte und belebte Umwelt an der Verhaltensentwicklung hat. Der Phänotyp, also das gesamte Erscheinungsbild eines Individuums, sowohl morphologisch als auch physiologisch und die Verhaltenseigenschaften betreffend, basiert immer auf den Erbanlagen. Dazu kommen zahlreiche epigenetische Einflüsse, wie neuste Forschungen auch beim Hund zeigen. Auch gänzlich vernachlässigt wird in der Theorie der angeborenen Rudelstellungen die Tatsache, dass Hunde in der Regel mit dem Menschen zusammenleben, dessen Aufgabe es ist, bei einer Mehrhundehaltung regulierend einzugreifen, wenn es zu Problemen kommt, beziehungsweise diese durch Management im Vorfeld zu verhindern.

 

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann tauschen sie noch heute….

Was für eine fachlich falsche, aber finanziell lukrative These, das Wesen Hund auf seine Position bei der Geburt zu reduzieren und diese für sämtliche Probleme im weiteren Hundeleben verantwortlich zu machen. Wie sehr schiesst das am Ziel beziehungsweise an den vielen individuellen und wunderbaren Eigenschaften unserer Begleiter vorbei. Ein Hund ist ein sehr anpassungsfähiges und lernbereites Tier, das durchaus in der Lage ist, sich lebenslang auf neue Situationen und Wegbegleiter einzustellen ‒ eine Tatsache, die keinem Hundehalter entgangen sein sollte. Der Hundehalter sollte ihn in seiner Entwicklung begleiten, seine Stärken fördern und auf seine Schwächen eingehen, um ihn in die richtigen Bahnen zu lenken und ihm ein glückliches und zufriedenes Hundeleben zu ermöglichen. Wer hingegen an absurde Theorien wie die der angeborenen Rudelstellungen glaubt und seinen «Partner mit der kalten Schnauze» beim Auftreten von Problemen abgibt oder eintauscht, weil er auf wissenschaftlich nicht haltbare Aussagen setzt, verfolgt einen falschen Ansatz und sollte eventuell darüber nachdenken, ob ein Hund mit einem Knopf im Ohr nicht besser für ihn geeignet wäre. Die kann man gut farblich sortiert ins Regal stellen.

 

Text: Sophie Strodtbeck

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geschrieben von:
Sophie Strodtbeck

Sophie Strodtbeck

Sophie Strodtbeck (*1975) hat ihr Studium 2002 an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Tierärztin abgeschlossen. Berufserfahrung sammelte sie in verschiedenen Praxen. Seit längerer Zeit ist sie in einer Hundeschule für tiermedizinische Belange zuständig und bietet zusammen mit Udo Ganslosser verhaltensmedizinische Beratungen an. Nebenher schreibt sie Artikel für diverse Hundezeitschriften und teilt ihr Leben derzeit mit vier eigenen Hunden.

7 Kommentare zu “Es war einmal die vererbte Rudelstellung…

  1. Alexander Schlums

    Moin Sophie,

    danke für den Artikel, es ist so wichtig, dass Hundehalter darüber aufgeklärt werden was für unglaublicher Quatsch das Ganze ist. Leider ist es wie du sagst, es wird von vielen Haltern angenommen, es ist ja auch so eine tolle und einfache Lösung und man muss sich mit nichts mehr beschäftigen. Für mich ist es der größte Blödsinn für den man Geld ausgeben kann.

    Ahoi
    Alexander

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  2. Brigitte Schäfer

    gut geschrieben, Sophie! Seit gut 20 Jahren laufe ich mit meinen Hunden einige Male pro Woche in gemischten Rudeln, ruhig und völlig problemlos. Ich bin absolut überzeugt davon, dass gemeinsames Bewegen allen gut tut und fast jedes Problem löst. LG – Brigitte

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  3. Desh

    Ich will hier nur soviel sagen: DANKE! DANKE für diesen Artikel … als in der Verhaltensbiologie / Ethologie Tätige, mag ich zu diesem „Thema“ weiter nichts mehr sagen. Zu sehr rege ich mich über solch unsachgemässen, ja tierquälerischen Umgang mit Hunden auf.

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  4. Daniela Kamber

    Vielen Dank für den tollen Artikel, es ist so wichtig, dass Hundehalter darüber aufgeklärt werden was für unglaublicher Quatsch das Ganze ist. Leider ist es wie du sagst, es wird von vielen Haltern angenommen, es ist ja auch so eine tolle und einfache Lösung und man muss sich mit nichts mehr beschäftigen.

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  5. Silvia

    Frau Ertel ist mir genauso unsympathisch wie vielen anderen, ihre Theorien sind dubios und unflexibel.
    Aber! Als mehrfache Hundebesitzerin durfte ich feststellen, dass es durchaus unterschiedliche Charaktere innerhalb der Rasse gibt: z.B. souveräne Welpen und planlose. Rabauken und Seelchen u.a.
    Hunde sollten nicht alle über einen Kamm geschoren werden.
    Die eine Erziehungsmethode, die allen gerecht wird, gibt es nicht!

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  6. keil

    Hundegruppen
    16 Antworten
    Petra Keil lebt und arbeitet als Hundebetreuerin und –Trainerin in Berlin. Seit mehr als zehn Jahren führt und beobachtet sie Hunde in unterschiedlicher Gruppenzusammensetzung. Von festen Stellungen hat sie nie etwas bemerkt und stellt fest: „Bei dieser Tätigkeit wird eindeutig klar, dass es vRS nicht gibt.“

    IMG_3261.jpegSeit vielen Jahren arbeite ich als Hundesitterin, Dogwalkerin, Hundebetreuerin und Trainerin. Zwangsläufig ist auch mir die Lehre von der vererbten Rudelstellung nicht entgangen. In meinem Beruf lerne ich sehr viele Hunde unterschiedlichster Couleur kennen. Ich vergesellschafte sie jeden Tag, wenn man so will. Die Reise ins „Universum Hund“ nenne ich es für mich und beobachte sie mit Freude in ihrem Verhalten und ihrer Gruppendynamik.

    Meine Hundegruppen strukturieren sich jeden Tag neu. Besonders fällt dies auf, wenn Gasthunde in die jeweilige Gruppe kommen. Sofort beginnen die „Stammhunde“ in Eigenregie mit dem „Scannen“ und Einordnen des neuen Hundes. In der Regel entwickelt sich daraus angemessenes Rollenverhalten, die Hunde zeigen dabei keinerlei Stress oder Unwohlsein. Besonders faszinierend ist ihre hohe soziale Kompetenz, wenn z.B. ein verhaltensauffälliger Hund in die Gruppe integriert wird.

    Natürlich muss ich Neuzugänge in den Gruppen „vorstellen“ und dabei Klarheit vermitteln. Dass sie mich in meiner Verantwortung akzeptieren, ist die Grundvoraussetzung für eine klare Struktur, innerhalb der sich jeder bewegen kann, wie er möchte, um sich wohl und sicher zu fühlen. Hunde passen sich in ihrem Verhalten an, um für sich eine Basis des Wohlfühlens, der Sicherheit zu schaffen. Die meisten Hunde wollen zusammen sein. Geschmeidig und achtsam gehen sie miteinander um, wenn Deutlichkeit nötig ist, auch sehr grob.

    Es gibt Hunde, die ich als Einzelgänger bezeichne, die in der Gruppe „ihr Ding“ alleine machen, für sich sein möchten. Auch das wird von den anderen akzeptiert. Mobbing-Situationen habe ich selten erlebt. Sie lassen sich durch Klarheit, ruhige verbale Korrektur gut handeln. Wenn etwas in einer Hundegruppe nicht klappt, dann hat das nichts mit Genetik zu tun oder weil ein Hund Typ AAA, BBB oder CCC ist. Hunde brauchen und wollen kompetente Führung. Es ist von Vorteil, wenn man dafür einen Blick hat und situationsbedingtes Verhalten richtig einschätzt und wertet.

    Wenn Hundehalter keinen Ausweg mehr wissen, nachdem sie Hundeschulen ohne Erfolg besucht haben, klammern sie sich an alles Neue, was so „natürlich-hündisch“ klingt und ihre Probleme im Umgang mit dem Hund so einleuchtend erklärt. Der Leidensdruck ist bei vielen Hundehaltern enorm, und in einer Gruppe von Anhängern fühlt man sich sicher und geborgen. Man kann sich darin einrichten und alles, was man erlebt, bequem nach dem gemeinsamen Bilde zurechtbasteln.

    IMG_6821Natürlich gibt es „Hundetypen“ bzw. Kommunikationstypen. Das ist nichts Neues. Ob man das nun als menschliche Berufsbezeichnungen (Wächter) oder als tabellarische Buchstabenanordnung (OMG) interpretiert, ist doch jedem überlassen, so lange kein Hund zu Schaden kommt. Ihre flexiblen Strategien erlauben es Hunden, seit Tausenden von Jahren in allen möglichen Gruppenstrukturen zusammen und an unserer Seite zu leben. Starre Stellungen hätten da fatale Folgen, damit hätten sie sicher nicht so lange überlebt. Alles in allem – Hunde sind für mich wahre Evolutionswunder! Sie haben sich so gut angepasst, gerade an den Menschen, der ja die größte Herausforderung für sich selbst und für andere Spezies darstellt.

    Ich könnte viele Fallbeispiele nennen und möchte nur eines schildern, um zu verdeutlichen, wie Hunde in kürzester Zeit ihr Verhalten ändern können. Ein Tibet Terrier Rüde, der seit vielen Jahren in meiner Betreuung ist, reagiert bei seinen Haltern auf andere Rüden sehr aggressiv. Wenn er aber morgens zu mir an das Auto zum Auslauf gebracht wird, ich die Leine übernehme, ist er wie ausgewechselt. Obwohl die anderen Rüden im Auto um ihn herum sind, gesellt er sich gern dazu, zeigt nicht einmal Meideverhalten. Im weiteren Tagesverlauf ist er mit souveräner Leichtigkeit dabei, keine Aggression, keine auffälligen Verhaltensweisen, er integriert sich vollkommen normal.

    Am Nachmittag bei Abholung der Hunde die gleiche Situation: Die Hundehalterin übernimmt die Leine ihres Hundes, und dieser geht sogleich äußerst aggressiv auf die anderen los, mit denen er zuvor problemlos unterwegs war. Ich nenne es das Jekyll- und Hyde-Verhalten. Ich möchte damit nur unterstreichen, wie extrem Hunde ihr Verhalten an die Situation und an die „Führungsperson“ anpassen. Der Hund wechselt sofort in seine neue Rolle, kennt dabei genau die Inszenierung und folgt präzise ihrer Dramaturgie.

    Mein Resümee

    IMG_8368Für mich gibt es keine festen Rudelstellungen. Andernfalls hätte ich meinen Beruf längst vor lauter Verzweiflung an den Nagel gehängt. Denn ich wäre nicht Tag für Tag mit Hundegruppen in ständig wechselnder Besetzung unterwegs, wenn ich sie unsäglich leidend erleben würde. Ich erlebe sie stattdessen in GESUNDER BALANCE!

    Das Einschätzen und Interpretieren von Hunden gehört zu meiner Tätigkeit, daraus mache ich keine Wissenschaft, weil ich keine Wissenschaftlerin bin. Um wirkliches Wissen zu erwerben, ist Demut erforderlich, der Austausch mit Weggefährten und mit seriösen Kanidenforschern. Ich bilde mir ein, von und über Hunde viel gelernt zu haben, und dennoch weiß ich, dass ich nichts weiß.

    Der Versuch, mit Hunden nach festen „Rudelstellungen“ umzugehen, wird bei vielen Haltern zu bösem Erwachen führen. Für die betroffenen Hunde kann es ein schmerzhafter und trauriger Prozess werden. Wir sollten Hunde in ihrer individuellen Entwicklung unterstützen und nicht in menschengemachte Schubladen zwängen. „Universum Hund“ – eine gemeinsame Reise dahin kann wertvoll und schön sein!

    Jeder Hund ist ein Buch OHNE sieben Siegel! Viel Freude beim Blättern und Lesen!

    Petra Keil

    IMG_5252Top

    Dieser Beitrag wurde am 27. Oktober 2014 von jcl in Artikel veröffentlicht. Schlagworte: Hundebetreuung, Rudelstellung.

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