Der ganz normale Wahnsinn! Gesunde Stressreaktionen für Erfolg und Lebensqualität

Alle Welt redet von Stress. Jeder weiss ein bisschen was darüber und kann sicher von eigenen Stressmomenten berichten. Gerne wird dabei vergessen, dass Stress auch durchaus wichtig ist. Wichtig fürs Überleben, wichtig fürs Bewältigen von Herausforderungen, wichtig, um überhaupt die Motivation zu haben aufzustehen.

Der Stress von Hunden funktioniert dabei grundsätzlich gleich wie der Stress ihrer Menschen. Der wichtigste Unterschied dürfte sein, dass Menschen in der Lage sind, durch Gedankenkarusselle eine Stressreaktion auch ohne äussere Reize hervorzurufen und durch ebensolche auch gegenzusteuern.

 

Von der Zelle zum Organismus

 Stressreaktionen sind schon bei einzelligen Organismen nachweisbar. Sie sorgen dafür, dass Zellen sich vor schädlichen Einwirkungen schützen und sich anstrengen, um im Gegenzug besonders wertvolle Ressourcen – zum Beispiel spezielle Nährstoffe – zu ergattern. Unser Körper stellt einen Zellverband dar. Durch schnelle Kommunikationswege und die genannten Stressreaktionen schaffen es Körperzellen, sich selbst und dadurch den gesamten Zellbestand zu sichern. Die Motivation dabei ist die gleiche: vor Schaden schützen, wertvolle Ressourcen ergattern. Damit sichern die Zellen sich und ihren Nachkommen ein langes Leben und die Chance der Weitergabe ihrer genetischen Informationen. Je komplexer das Lebewesen, desto komplexer auch die Zusammenarbeit der beteiligten Zellen. Damit wird auch das Verhalten komplexer, um die Herausforderungen des Lebens zu bestehen.

 

Für komplexes Verhalten haben Säugetiere ein Gehirn konstruiert. Einige Zellen in unserem Organismus haben somit spezielle Aufgaben der Reizweiterleitung und -steuerung übernommen. Sie sorgen für die Vermittlung der verschiedenen Bedürfnisse jeder Zelle im Körper in Abgleich mit Reizen, die von aussen auf sie einwirken. Stellen Sie sich das vor wie in einer Firma. Jeder einzelne Mitarbeiter führt bestimmte Aufgaben aus und erhält damit direkt oder indirekt die Funktionen der Firma. Fällt ein wichtiger Mitarbeiter aus, entsteht Stress. Ebenso wenn plötzlich ganz viele Aufträge auf einmal erledigt werden sollen oder ein wichtiger Auftrag über die Zukunft der Firma entscheiden wird. Die Zentrale versucht die Mitarbeiter der Firma zu organisieren und sie bei Laune zu halten. Für Letzteres dient der Lohn, der zwischendurch und am Ende einer bewältigten Aufgabe, gemessen an deren Herausforderung, ausgezahlt wird. Unter Zellen ist Dopamin die aktuelle Währung. Zellen, die mit Dopamin belohnt werden, setzen ihre Arbeit besonders fleissig fort und dehnen sie aus.

 

Was soll ich denn nun zuerst tun?

 Alle Reize von aussen, aber auch von innen, werden über Nervenbahnen zum Hirn gesendet. Dort werden sie ausgewertet. Doch nicht alle Reize bedürfen einer Weiterverarbeitung. Einige Reize können von einem geschulten Gehirn daher ignoriert werden, während anderen eine besondere Bedeutung zugemessen wird. Es werden Prioritäten in der Weiterverarbeitung gesetzt und die Aufgaben an verschiedene Organe verteilt.

 

Die meisten Reize gelangen zuerst in den Thalamus.

Wie ein Pförtner entscheidet dieser, welche Reize hereingelassen werden und welche abgewiesen werden. Solche, die beispielsweise durch Gewöhnungsprozesse als nicht relevant eingestuft werden, leitet der Thalamus nicht mehr weiter. Neue Reize und all jene, die sich schon als relevant herausgestellt haben, werden an die nachgeschalteten Hirnregionen verteilt. Dazu gehören das Grosshirn, der Hippocampus und die Amygdala.

 

Akustische Reize aktivieren automatisch die allgemeine Handlungsbereitschaft.

Zwar werden diese auch über den Thalamus zur weiteren Verarbeitung gefiltert, sie gelangen aber zeitgleich direkt zum Sympathikus. Damit leiten sie über die zugehörigen Nervenstränge eine Stressreaktion ein, unabhängig von der weiteren Verarbeitung. Geräusche können dadurch beispielsweise heftige Schreckreaktionen auslösen. Bei spannenden Filmen sorgt die Geräuschkulisse für das gewollte Kribbelgefühl. Andauernde Geräusche sorgen auf diese Weise aber auch für einen gewissen Hintergrundstress, der uns oft nicht bewusst ist.

 

Geruchliche Reize übergehen den Thalamus und gelangen direkt zur Amygdala.

Dort findet sofort eine emotionale Bewertung statt. Die Amygdala hat dazu eine genetisch festgelegte Datenbank, die regelmässig angepasst wird. So entscheidet sich hier ganz schnell, ob alles in Ordnung ist oder Grund zur Sorge besteht.

 

Das Grosshirn kann charakterlich mit «Schlaubi-Schlumpf» verglichen werden.

Schlaubi ist der Schlaumeier unter den Schlümpfen. Immer wenn im Schlumpfdorf eine Herausforderung bewältigt werden muss, versucht Schlaubi mit logischen Argumenten Hilfestellung zu geben. Teils bring Schlaubi dabei durchaus sinnvolle Ideen ein, die auch aufgenommen werden. Doch immer, wenn es gerade «brennt», hat kaum ein Mitschlumpf Augen und Ohren für den armen Schlaubi. Regelmässig wird er dann sogar mit einem Fusstritt unsanft aus dem Dorf befördert und verliert sein Mitspracherecht. Genauso geht es auch unserem Grosshirn, dem Logikzentrum. Wenn das Grosshirn gut geschult ist und sich regelmässig als hilfreich erweisen kann, schafft es im Gegenzug manchmal das Mitspracherecht zu erhalten und eine Stressreaktion durch die sogenannte Impulskontrolle zu bremsen, doch das braucht viel Übung. Die Aktenschränke des Hippocampus dienen dem Grosshirn als Bibliothek. Dort kann vorhandenes Wissen abgefragt und neu verknüpft werden, um kreative Lösungsstrategien für neue Aufgaben zu entwickeln.

 

Der Hippocampus hat die Aufgabe eines Sekretärs und verwaltet seine Bibliothek

Die vom Thalamus weitergeleiteten Informationen werden vom Hippocampus in Akten vorsortiert und abgelegt. Der Aktenschrank entspricht dabei dem Langzeitgedächtnis, in dem die Erinnerungen gesammelt werden. Schubladendenken darf hier wörtlich genommen werden. So vorsortiert, stehen die Informationen für die weitere Verarbeitung schnell zur Verfügung. Der Hippocampus arbeitet sehr eng mit der Amygdala zusammen. Erinnerungen mit emotionaler Bedeutung werden rot oder grün markiert und so abgelegt, dass sie bei Bedarf besonders schnell verfügbar sind.

 

Tauchen ähnliche Situationen erneut auf, wird die entsprechend markierte Erinnerung sofort an die Amygdala weitergegeben, die dann schneller ihrer Aufgabe nachkommt, um das Überleben des Zellbestandes zu sichern. Auch verstaubte Akten finden sich im Hippocampus. Erinnerungen, die nie hervorgeholt werden, machen Platz für jene, die mehr Nutzen zu haben scheinen. Sie werden im Keller in der hintersten Ecke verstaut. Um sie wieder hervorzuholen, muss daher länger gekramt werden.

 

Um seiner Aufgabe gerecht zu werden, braucht der Sekretär Pausen beim Reizeingang. Stellen Sie sich vor, Sie bekommen einen riesigen Stapel unsortierte Schriften auf Ihren Schreibtisch und während Sie diese abarbeiten, kommen immer noch mehr hinzu. Abgearbeitet wird grundsätzlich von oben nach unten. Was als Letztes reinkommt, wird als Erstes abgelegt. Erinnerungen mit einer emotionalen Bedeutung haben aber Vorrang bei der Verarbeitung. Andere Schriften werden beim nächsten Grossputz einfach entsorgt und können so verloren gehen.

 

Der Schreibtisch entspricht dem Kurzzeitgedächtnis. Erst im Schlaf werden die Eindrücke in «Akten» überführt und stehen dann dauerhaft als Erinnerung zur Verfügung. Ausnahmen sind traumatische Erfahrungen und solche, die mit einem ultimativen Lustgefühl verbunden sind. Diese werden sofort, auch im Wachzustand, ins Langzeitgedächtnis überführt.

 

Die Amygdala – himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt.

Mandelkern ist die deutsche Bezeichnung für ein verhältnismässig kleines Hirnareal mit einer extrem grossen Bedeutung. Die Amygdala ist das Sicherheitszentrum, das in lebensbedrohlichen Situationen und bei der Aussicht auf eine extrem wertvolle Ressource anschlägt und das Stress-System aktiviert. Hierzu wirkt sie direkt auf die Adrenalin- und Noradrenalinausschüttung, womit die Handlungsbereitschaft, also der Sympathikus, angeregt wird.

Reflexe, so wie der Gesichtsausdruck bei Furcht oder Ausgelassenheit, werden durch die Amygdala ganz automatisch veranlasst. Dadurch gibt die Amygdala einen Einblick in das momentane emotionale Befinden eines Menschen oder Hundes. Wurde sie erst einmal vollständig aktiviert, ist die Stressreaktion kaum noch zu bremsen. Der Hypothalamus wird angefunkt, der für die Bewältigung der bevorstehenden Aufgabe weitere Helfer organisieren kann. Gleichzeitig hemmt der Mandelkern die Aktivität des Hippocampus und damit auch das Mitspracherecht der Grosshirnrinde. Erinnerungen und logische Handlungsweisen sind dann erst mal irrelevant.

Sie können sich das vorstellen wie bei einem Feueralarm. Selbst wenn dieser nur versehentlich ausgelöst wurde, ist es nicht mehr möglich, die Rettungskräfte zurückzurufen. Die Arbeit muss eingestellt werden, alle müssen das Haus verlassen und die Feuerwehr geht ihre Kontrollrunden. Erst wenn alles gesichert ist, kann das Tagesgeschäft wieder weitergehen.

Wurde eine Belastungssituation erfolgreich gemeistert, aktiviert die Amygdala einen Nervenknoten, der Dopamin ausschüttet. Man könnte sagen, dass jedes Hirnareal ein oder mehrere Konten für Dopamin hat, das dort eingezahlt wird – ein einfaches Belohnungssystem für alle Zellen, die an der Bewältigung der Aufgabe mitgewirkt haben, um den Erfolg gemeinsam zu feiern. Je schwieriger die erfolgreich bewältigte Aufgabe war, desto grösser ist der Lohn, der eingezahlt wird. Die erfolgreichen Strategien werden damit fest eingespeichert und bei Bedarf wieder abgerufen.

Einige lustbetonte Handlungen sind genetisch vorprogrammiert und sorgen dafür, dass einfach mal etwas Dopamin verschenkt wird, wenn diese ausgeführt wird. Damit werden Handlungen, die nicht immer sofort zielführend sind, aufrechterhalten. Das Jagdverhalten beim Hund zählt beispielsweise dazu.

 

Der Hypothalamus ist die Meldezentrale des Körpers, die Hypophyse unsere hauseigene Apotheke. 

Im Hypothalamus wird die Zusammenarbeit verschiedener Organe im ganzen Körper koordiniert. Er sorgt rund um die Uhr dafür, dass alle Zellen zufrieden sind und ihre Bedürfnisse erfüllt werden. Hierfür bedient er sich verschiedener Botenstoffe, die bei Bedarf über zahlreiche Wege in den Zielzellen ankommen und dort deren Aktivität steuern. Einige Botenstoffe kann der Hypothalamus direkt aussenden, viele davon werden in der darunter liegenden Apotheke (Hypophyse) angefordert. Viele Medikamente, die durch Tabletten eingenommen werden, kann die Hypophyse selber herstellen oder weitere Organe damit beauftragen. Wenn wir wüssten, wie wir unsere Hypophyse ansteuern können, bräuchten wir kaum noch Medikamente einzunehmen.

Nach einer Aktivierung durch die Amygdala hilft der Hypothalamus bei der Bereitstellung von Energiereserven. Hierzu veranlasst er beispielsweise die Nebennieren zur Ausschüttung von Cortisol, das dem Medikament Kortison sehr ähnlich ist. Dieses Hormon sorgt dafür, dass genug Zucker bereitgestellt wird und eine länger andauernde Belastung sicher aufrechterhalten werden kann. Cortisol sorgt gleichzeitig dafür, dass andere im Moment weniger wichtige Aufgaben ruhen, um alle Energie für die aktuelle Belastung zur Verfügung zu stellen. So wird durch Cortisol das Immunsystem gebremst, genauso der Zellstoffwechsel und die Verdauung im Darm. Auch die Funktion der Hirnareale wird durch Cortisol gemindert.

Nur die Aktivität der Amygdala wird durch die Anwesenheit von Cortisol angeregt. Diese wird dadurch während und kurz nach einer Stressreaktion empfindlicher und schlägt schneller an.

Cortisol wird über das Blut aus den Nebennieren im ganzen Körper verteilt. Der Hypothalamus misst die Cortisolsättigung im Blut und beendet die Anforderung desselben, wenn genug dort ankommt. Sofern die Amygdala nicht gleich wieder schreit, die Herausforderung also erfolgreich bewältigt wurde, wird damit das Ende der Stressreaktion eingeleitet. Dies wird als negative Rückkopplung bezeichnet.

Im Gegenzug aktiviert der Hypothalamus nun den Parasympathikus. Serotonin, das sogenannte Wohlfühlhormon, und Oxytocin (als Kuschelhormon bekannt), werden ausgeschüttet und Entspannung tritt ein. Das Tagesgeschäft der Zellen kann weitergehen, die Verdauung wird wieder angeregt. In diesem Zustand ist auch die Schilddrüse aktiv und sorgt mit weiteren Helfern dafür, dass geschädigte Bereiche wiederaufgebaut werden.

 

Stress ermöglicht die flexible Anpassung an wechselnde Anforderungen

Nehmen wir an, bei einem aufgeschlossenen Welpen steht der erste Tierarztbesuch an.

Die neuen Reize werden vom Thalamus weitergeleitet. Neugierig sieht sich der Vierbeiner um. Die Amygdala ist jederzeit bereit, noch gibt es aber keinen Grund zur Aufregung. Der Hippocampus sammelt die Eindrücke und prüft, ob es schon ähnliche Erinnerungen gibt, leitet diese an das Grosshirn und die Amygdala weiter. Dann kommt ein grosser fremder Mensch mit weissem Kittel auf den Welpen zu. Das Alarmsystem wird vorsichtshalber aktiviert, der Sympathikus ist bereit sofort zu handeln, um sich in Sicherheit zu bringen, der Hypothalamus sorgt für die Ausschüttung von Cortisol und somit zur Bereitstellung von Energiereserven – nur für den Fall. Der Mensch stellt sich dann doch als ganz sympathisch heraus, lässt dem Welpen Zeit und die Stressreaktion lässt schnell nach.

Doch dann wird der fremde Mensch übergriffig, fasst den kleinen Hund überall an, prüft die Intimstellen und setzt am Ende noch eine schmerzhafte Spritze. Das Alarmsystem wird erneut aktiviert. Die Situation wird als bedrohlich eingestuft, die Amygdala veranlasst den Körper zu handeln. Die Aktivierung des Sympathikus und die bereitgestellte Energie sorgen dafür, dass eine schnelle und explosive Bewegung möglich ist, die bei Bedarf auch länger aufrechterhalten werden kann. Meist ist Flucht die erste Reaktion, die aktiviert wird. Ist dieser Weg versperrt, folgt Wehrverhalten im Sinne von Schnappen oder Beissen. Klappt auch das nicht, wird «Totstellen» als Strategie ausprobiert. Ist der Vierbeiner frei, kann aber nicht so recht abschätzen, welche Strategie erfolgreich sein wird, sieht die Stressreaktion auch teilweise wie ein Herumalbern aus. Hierbei handelt es sich um eine Mischung aus Angriff und Flucht, die mit Hopsen und Bellen zum Ausdruck gebracht wird und gerne mit Spiel verwechselt wird.

Schafft der Welpe es mithilfe einer dieser Strategien, sich aus der misslichen Lage zu befreien und unbehelligt davonzukommen, wird diese als erfolgreich abgespeichert. Nach der Stressreaktion werden die beteiligten Hirnareale mit Dopamin belohnt und das Überleben gefeiert. Folgt später eine ähnliche Situation, wird der Hippocampus diese Strategie direkt vorschlagen. So ist kein Ausprobieren mehr nötig und die Situation kann sofort zu den eigenen Gunsten gewendet werden.

Immer wenn eine Stressreaktion aus Sicht der Zellen im Körper erfolgreich bewältigt werden kann, handelt es sich um Eustress, dem «guten Stress». Bei wiederkehrend erfolgreicher Bewältigung reagiert die Alarmanlage weniger hysterisch und lässt dem Grosshirn noch Raum, um sich einzubringen. So werden die Strategien mit der Zeit überlegter und gezielter eingesetzt. Es gilt so wenig Aufwand wie möglich und so viel wie nötig einzusetzen. So würde die Flucht nach und nach auf ein notwendiges Minium beschränkt werden oder Knurren und Schnappen als Warnung könnten ausreichen, um sich aus einer misslichen Lage zu befreien. Doch meistens funktionieren diese Strategien beim Tierarzt alle nicht. Der Hund wird festgehalten und die notwendig erscheinende Massnahme umgesetzt. «Da muss er halt jetzt durch» ist dann die übliche Aussage.

Kann der Hund sich mit keiner Strategie befreien oder erst dann entkommen, wenn es schon zu spät ist, handelt es sich um Disstress. Im Hippocampus wird diese Situation nun mit vielen roten Akten abgelegt. Alle Reize, die diese Situation ankündigen, werden als mögliche Gefahr gewertet. Beim nächsten Tierarztbesuch wird die Amygdala durch diese Akten nun frühzeitig gewarnt. Die Stressreaktion beginnt früher und stärker, um zu verhindern, dass der Hund erneut in diese missliche Lage kommt, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint – der Hund hat Angst. Biologisch macht diese Anpassung absolut Sinn, wenn man davon ausgeht, dass sich die Nervenzellen in der Haut deutlich bei der Meldezentrale beschweren, wenn diese einen Schmerz durch die Spritze erfahren.

 

Ein anderer Hund entdeckt eine wertvolle Futterquelle, die aber im ersten Moment nicht verfügbar scheint.

Der Geruch von Futter geht direkt bei der Amygdala ein, die Aussicht auf diese Ressource aktiviert eine freudige Erwartungshaltung. Diese wird nicht erfüllt und der Vierbeiner frustriert, wenn er nicht an das Futter kommt. Die «frustrierte» Amygdala aktiviert daraufhin das Stress-System. Die Handlungsbereitschaft steigt, der Hypothalamus organisiert Cortisol für die Energiebereitstellung und der Hund wird aktiv. Er sucht nach Möglichkeiten, an das Futter heranzukommen, kratzt, gräbt oder reisst mit dem Maul an den Elementen, die den Zugang versperren. Auch hier kann teilweise das Herumalbern beobachtet werden, denn der fehlende Erfolg lässt manche Zellen zum Rückzug blasen, andere aber glauben noch, dass es einen Weg geben könnte, das Ziel zu erreichen.

Schafft es der Vierbeiner, die Barriere zu knacken und die Futterquelle zu ergattern, wird auch diese Strategie als erfolgreich abgespeichert. Mit zunehmender Übung wird auch hier die Grosshirnrinde immer mehr Mitspracherecht erhalten, um mit weniger Aufwand den gleichen Erfolg zu erzielen.

Vereinfacht kann man also sagen, Stress bewirkt, dass der Körper aktiviert wird. Er wird zu einer Verhaltensanpassung genötigt, um eine Situation erfolgreich zu bewältigen. Lernen wäre ohne Stress daher gar nicht möglich; es würde schlicht und einfach die Motivation fehlen, ein Verhalten anzupassen, um etwas zu erreichen oder Schaden zu vermeiden.

 

Die Menge macht das Gift!

Tägliche kurze Stressreaktionen sind kleine Anschubser, die uns helfen in die Gänge zu kommen.

Sie gehören zum Alltag und halten uns fit. Durch Bewegung werden die bereitgestellten Energiereserven schnell wieder aufgebraucht und die Bewältigung von schwierigen Aufgaben fühlt sich dank Dopamin ja auch richtig gut an. Auch wenn die dadurch erlernten Verhaltensstrategien nicht unbedingt unseren sozialen Verhaltensnormen entsprechen, sind solche Stressreaktionen für den, der sie auslebt, durchaus gesund.

Es ist gesünder zu flüchten oder sich zu wehren, als den empfundenen Schaden einfach auf sich wirken zu lassen. Es ist gesünder, eine mögliche Bedrohung direkt zu eliminieren, bevor sie dem eigenen Körper zu nahe kommt. Nach einer Stressreaktion braucht es aber auch Entspannungsphasen, in denen der Körper wieder zur Ruhe kommt und die Regeneration eingeleitet wird.

 

Ungesund ist es, wenn Anpassungsstrategien regelmässig erfolglos bleiben und sich die roten Akten im Hippocampus häufen.

Das ist der Fall, wenn alles nicht hilft und der Körper einer bedrohlichen Situation hilflos ausgeliefert ist. Die Angst vor noch schlimmeren Folgen lähmt den Körper und dieser ist unfähig zu handeln. Die bereitgestellte Energie kann nirgendwo hin und richtet sich am Ende gegen den eigenen Körper. Die Amygdala bleibt lange aktiv, wertet neue Reizeingänge übervorsichtig und sorgt damit für eine häufige und länger andauernde Cortisolausschüttung durch den Hypothalamus.

Diese Situationen lassen sich nicht immer vermeiden, aber Prävention ist möglich. Treten solche nur sehr selten auf und können sie «kurz und schmerzlos» umgesetzt werden, ist deren Wirkung nicht übermässig dramatisch. Durch direkt anschliessende, besonders lustvolle Ereignisse kann die emotionale Färbung der Situation günstig beeinflusst werden. Damit wird die Bildung von roten Akten im Hippocampus auf ein Minimum reduziert. Beispielsweise könnte nach der unangenehmen Behandlung durch den Tierarzt direkt eine besonders tolle Futterquelle angeboten werden, die für eine kräftige Dopaminausschüttung sorgt.

 

Ungesund ist auch, wenn Entspannungsphasen und Zeit für die Regeneration fehlen.

Anders als Adrenalin und Noradrenalin verbleibt Cortisol länger im Körper. Fehlen die notwendigen Entspannungsphasen, steigt der Cortisolspiegel daher kontinuierlich an. Die Schilddrüse rutscht in eine Unterfunktion, der Körperstoffwechsel wird nur noch zugunsten der Energieproduktion gefördert, Reparaturen bleiben aus. Der Körper wird anfällig für Erkrankungen, die sonst ganz leicht weggesteckt werden. Durch einen dauerhaften «Beschuss» von Cortisol kann sogar der Hippocampus zerstört werden. Der Zugriff zu Erinnerungen ist dann nicht mehr oder nur noch sehr begrenzt möglich. Beim Menschen äussert sich dies beispielsweise in einem Burnout.

Nach einer sehr stressreichen Zeit braucht es entsprechend länger, bis der Körper wieder vollständig erholt ist. Neben dem Abbau von Cortisol benötigt der Organismus in diesem Fall auch viel Zeit, um geschädigte Areale wiederaufzubauen und die Reaktivität der Amygdala zu senken.

Aufregung und Entspannung sollten sich aus diesem Grund immer die Waage halten, um dem Körper Zeit für die Regeneration zu lassen. So bleibt Stress gesund und hält den Körper fit.

 

Text: Katrin Schuster

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geschrieben von:
Katrin Schuster

Katrin Schuster

Katrin Schuster (Jahrgang 1979) ist Tierverhaltenstherapeutin und gelernte Laborfachfrau für Veterinärmedizin (V-MTA). Als Dozentin für ethologische und veterinärmedizinische Themen gibt sie ihr breites Wissen an angehende Verhaltensberater, Tierheilkundige und Tiermedizinische Praxisassistenten in verschiedenen Schulen weiter. Neben der gesundheitlichen Abklärung bei Verhaltensauffälligkeiten liegen ihr die tiergerechte Haltung sowie der respektvolle und faire Umgang zwischen Tier und Mensch am Herzen. Katrin Schuster arbeitet mit Tierpsychologen, Fachtierärzten und Tierheilpraktikern eng zusammen.

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