Abschied von Carla

Teil 4

Text: Marlene Zähner

13. November 2012, 8 Uhr
Konsterniert schauen mich die jungen Ranger an: «Was? Ein Gefangener ist heute Morgen aus dem Gefängnis ausgebrochen, vor zirka einer Stunde.» «Wir haben einen Einsatz», wiederholte ich. «Hunde auf den Lastwagen laden, alle runter zum Gefängnis, nehmt alles mit, was ihr für die Spurensicherung und die Sicherung eines Geruchsartikels braucht. Der entflohene Gefangene ist ein hochgewachsener Deutscher der gestern verhaftet wurde.» Langsam zeigte sich Verständnis und vielleicht sogar Erleichterung in den Gesichtern der jungen Männer. So viele grosse Deutsche laufen in Rumangabo nicht herum, also eine Übung. Trotzdem erkläre ich ihnen: «Eine Realübung, also macht alles, wie wenn es echt wäre.» Gesagt getan.

Am Gefängnis angekommen, wird alles nach den Regeln der Kunst durchgeführt. Zelle gesichtet, Beweismittel nummeriert und fotografiert, Zeugen befragt und am Ende wählt jeder Hundeführer einen Artikel für seinen Hund aus. Und los geht’s, im «Frog Leaping System», ein Hund nach dem anderen wird gearbeitet und immer am Ende der gerade gearbeiteten Strecke angesetzt. Die restlichen Hunde und Hundeführer werden auf dem Lastwagen zur nächsten Stelle transportiert.

Drei Stunden sind wir unterwegs, bis die Fährte von der Strasse weg in ein Feld und dann durch den Wald in Richtung eines kleinen Sees führt. Hier lasse ich alle Hunde, einen nach dem anderen, das Ende arbeiten, so dass jeder zum Erfolg kommt.

Mit Carla, unserer jungen belgischen Hündin, die bisher wenig Interesse an der Arbeit gezeigt hat, wird am Schluss gearbeitet, als Motivationshilfe, was auch funktioniert. Sie kann wirklich arbeiten, wenn sie will.

13. November, 20 Uhr
«Schnell, Carla geht es nicht gut!» Patrick, der junge Ranger, der heute Abend der «Permanent» ist, das heisst die Nacht bei den Hunden verbringt, kommt uns aufgeregt entgegen. Wir, Emmanuel de Merode, Swen Busch und ich waren im Speisezelt und wollten uns gerade in unsere Zelte zurückziehen. Im Kongo geht man früh ins Bett, um 18 Uhr ist es dunkel und Abendunterhaltung gibt es nicht – kein Fernsehen. Gemeinsam eilen wir zur Zwingeranlage. Ich lasse meine Hände über den Rumpf der jungen Hündin streichen. «Verda…., was machen wir jetzt?» Die Diagnose ist eindeutig: Magendrehung, ein häufiger Killer grosswüchsiger Rassen. Der Magen bläht sich plötzlich auf, dreht sich um die eigene Achse und die Tiere sterben innerhalb weniger Stunden einen qualvollen Tod. Die einzige Rettung ist eine Notoperation. Hier in Rumangabo – unmöglich! Ich bin zwar Tierärztin, aber auf Grosstiere spezialisiert und die Möglichkeit zu operieren ist hier nicht gegeben. Die nächste Klinik liegt drei Stunden entfernt, in Ruanda. Das wird sie nie schaffen. Wir nehmen Carla in einen der wenigen Räume, in denen Licht zur Verfügung steht. Ich kämpfe drei Stunden um das Leben der jungen Hündin, mit den wenigen mir zur Verfügung stehenden Mitteln. Alle Schutzengel müssen mitgeholfen haben, ich schaffe es, ihren Magen zu entgasen und sie zu stabilisieren.

Diese Nacht und die folgenden wird Carla bei mir im Zelt schlafen. Sie wird keine Minute alleine gelassen. Es ist klar, wir müssen sie zu einem Veterinärchirurgen bringen oder sie wird beim nächsten Vorfall, der garantiert ist, vermutlich nicht überleben. Die Hunde sind uns wichtig, jeder einzelne!

18. November, 11 Uhr
Es mussten viele Hindernisse beseitigt und Bewilligungen eingeholt werden, aber wir haben es geschafft. Heute werden wir, Emmanuel, ein zweiter Pilot, Carla und ich uns mit dem kleinen Flugzeug des Parks auf die lange Reise nach Nairobi begeben. Man wird gleich die Gelegenheit ergreifen und am Flugzeug die jährliche Revision durchführen lassen. Die Hundegruppe mit allen Hunden kommt zum lokalen «Flugplatz» neben dem Uno-Quartier mit, um gleich dort zu trainieren. Wir sind bereit, Carla sitzt neben mir im hinteren Teil des Flugzeugs, die Piloten haben das Flugzeug am Ende der Piste gewendet und beschleunigen für den Take off. Als wir an der Hundegruppe vorbeifahren, schaue ich aus dem Fenster. Neben der Landepiste stehen die Ranger und Swen, stramm in militärischer Formation in einer Reihe und geben Stella einen letzten militärischen Gruss, Abschied eines Kameraden. Mir kommen die Tränen vor Rührung. Welchen Respekt, welche ehrliche Zuneigung dieser jungen Männer zu ihren Hunden, ihren Kameraden, im Kampf gegen die Wilderer und Milizen zeigen!

Wir sind mehrere Stunden unterwegs, über Uganda, den grossen Viktoriasee, die Massai Mara nach Nairobi. Carla bleibt ruhig, alles geht gut. In Nairobi wird Carla vom Grenztierarzt kurz untersucht und ohne Umstände durchgelassen. Auch ich habe keine Probleme bei der Einreise. Dann steigen wir ins Privatfahrzeug von Emmanuel und fahren weitere anderthalb Stunden durch Nairobi und die Savanne zu seinem Haus. Dort wird Carla bis zu ihrer Operation nächste Woche bleiben, während ich am nächsten Morgen früh wieder in den Kongo reisen werde.

Carla hat ein wunderbares Wesen, doch leider zeigte sie sich bei der Arbeit zu wenig konstant. Ebenso ist sie mit ihrer gesundheitlicher Verfassung nicht dazu geeignet, weitab der Zivilisation im Einsatz zu stehen. Sie hat die Operation gut überstanden, und wir konnten für sie ein neues Einsatzgebiet finden – sie geniesst nun ihr Familienhundedasein in vollen Zügen.

20. November, 19 Uhr
Unglaublich das Spektakel, das sich vor meinen Augen abspielt. Es gehört sicher zu einem der faszinierendsten und respekteinflössendsten Dinge, die ich in meinem Leben gesehen habe. Der aktive Vulkan spukte und grollte, der orange Schein, den wir schon die ganze Zeit vom Hauptquartier aus gesehen haben, erhellt die Nacht. Ich sitze neben LuAnne und einigen Touristen gerade mal 500 Meter vom Vulkan entfernt auf dem Boden und kann meine Augen nicht davon lassen. Die Ranger, welche geduldig ein paar Meter hinter uns Wache stehen, erinnern uns daran, dass es Zeit ist, zu unseren Zelten zurückzugehen, wir dürften aber morgen um vier Uhr noch einmal hin, wenn wir wollen. Und ob wir wollen! Das ist ein Erlebnis, das man nur einmal im Leben hat. Leider war Swen nicht dabei, er hatte sich eine Magen-Darm-Infektion eingehandelt und konnte das Hauptquartier nicht verlassen.

Januar ‒ Die Fährte führt links am Nilpferd vorbei…

10. Januar 2012, 16 Uhr
Gespannt höre ich den beiden Leitern der Hundegruppe, Christian Shamavu, Chef de Canine, und Gracien Sivanza, Chef de Securité, zu. Sie geben mir ein Update zu den Ereignissen der letzten acht Wochen. «Sabrina zeigt sich ein bisschen ängstlich, vor allem vor Ziegen und Kühen, auch die anderen Hunde erschrecken sich gelegentlich, wenn ihnen grössere ruhende Gegenstände begegnen», erklären sie mir. Ich schaue mir das an. Hunde sehen nicht gleich wie wir, sie können einen grossen Felsen, der sich nicht bewegt, nicht von einem ruhenden Löwen oder ruhig stehenden Menschen unterscheiden. «Wir möchten gerne den einen oder anderen Ortswechsel mit der Sicherheitsgruppe machen.» «OK, ich werde mit den zuständigen Personen sprechen.» Die Türe öffnet sich und der Chef Sicherheit des Virunga-Nationalparks, Gilbert Dillis, kommt herein. Ich teile ihm meinen Wunsch mit, mit der Gruppe in den Gebieten zu trainieren, in denen die Einsätze stattfinden werden, das ist in der Savanne und im Urwald. Gilbert meint: «OK, das können wir organisieren. Ein paar Tage in Lulimbi an der Grenze zu Uganda sollten machbar sein, es braucht etwas Vorbereitung, aber es geht. Den Urwald haben wir hier, das lässt sich mit Tagesausflügen abdecken.» Wir freuen uns. Ich wollte immer schon nach Lulimbi. Da soll es noch viele Wildtiere geben.

15. Januar, 8.30 Uhr
Es herrschte grosse Aufregung bei den jungen Rangen der Hundegruppe und ihren Kollegen, die nicht das Glück haben, mit auf die Reise nach Lulimbi zu dürfen. Sechs Monate verbrachten sie während ihrer Ausbildung dort und sie freuen sich darauf, zurückzugehen. Sie klettern auf dem Safari-Jeep herum, laden ihr Gepäck, die Nahrungsmittel, die Waffen und die Munition ein. Wir, Ethan Baron, der kanadische Fotojournalist, der uns eine Woche beim Training begleitet, und ich sitzen im Lastwagen, der die Hunde und ihre Betreuer transportiert. Der Jeep ist unsere Eskorte und wird die ganze Strecke von 120 Kilometern, für die wir auf den schlechten Strassen zirka fünf Stunden rechnen, vor uns her fahren. Endlich geht es los.

15. Januar, 13.30 Uhr
Über fünf Stunden sind wir über die holperigen Strassen gefahren, zuerst immer an der Grenze des Parks entlang, durch kleine Dörfer bis hin zur ugandischen Grenze. Im letzten kleinen Städtchen kaufen wir noch Lebensmittel ein, aber auch Wasser, das in dieser Region wertvoll ist. Ich spendiere eine Kiste Sucré und dann geht es durch eine Barriere ins Innere des Parks. Nach einem kurzen Waldstück öffnet sich vor uns die Savanne, und gleich sehen wir wieder einmal mehr, auf welche zerstörerische Art die Menschen Einfluss auf dieses wunderschöne Gebiet nehmen. Schwarzer, beissender Rauch schlägt uns entgegen. Die Leute legen während der Trockenzeit überall im Park Feuer. Später, wenn der Regen wieder einsetzt, werden junge Gräser wachsen. Im Moment ist alles verkohlt, brennt noch oder raucht vor sich hin. Natürlich ist alles geflohen, was fliehen kann, der Rest ist in den Flammen umgekommen. Sobald das junge Gras wächst, kommen die Wildtiere an den Ort zurück, was den Wilderern sehr entgegenkommt. Vermutlich legen sie sogar das Feuer, meint Christian. Etwas später sehen wir dann die ersten Antilopen und Büffel. Es gibt sie also noch. Rechts unten sieht man den Fluss, der als natürliche Grenze zwischen Unganda und Kongo dient, auf beiden Seiten ein Nationalpark. Aus diesem Grund hat es hier auch noch die meisten Tiere. Die Elefanten wissen genau, wo es für sie sicher ist.

Ein paar Meter vor uns leuchten diverse Augenpaare im Wasser. Die Hunde, die den ganzen Nachmittag ruhig im Schatten lagen, die die Nilpferde auf der anderen Flussseite ignoriert oder ihnen gelassen zugeschaut haben, fangen nun aufgeregt an zu bellen. Direkt vor uns plantscht es, gelegentlich ein dunkles Grollen. «Die Nilpferde kommen aus dem Wasser, sie haben den ganzen Tag geschlafen, jetzt müssen sie essen», erklärt mir David, der junge Ranger und Hundeführer, mit einer Selbstverständlichkeit, die keinen Widerspruch duldet. «Hmm, dann ist es vermutlich Zeit, die Hunde wegzubringen und zu hoffen, dass die Nilpferde woanders ihre Mahlzeit einnehmen.» Nilpferde sind die Wildtiere Afrikas, die die meisten Menschen töten und verstümmeln. Sie sind zwar Planzenfresser und sehen die meiste Zeit sehr gemütlich aus, aber sie sind ziemlich aggressiv und können problemlos einen Menschen in zwei Hälfte beissen. «Unsere» Nilpferde sind Menschen gewohnt und verhalten sich sehr natürlich und gelassen.

16. Januar, 7 Uhr
Wir legen früh morgens eine Fährte. Ich bin gespannt, wie die Hunde auf die Gerüche der Wildtiere reagieren. Gestern hatte ich die Gegend ein bisschen erkundet und habe schon eine Idee. Ethan, der Fotograf aus Kanada, spielt den Vermissten. Wir machen uns auf in Richtung militärischer Übungsplatz. Ich habe mir alles genau ausgedacht, gestern, nur heute haben wir ein kleines Problem beziehungsweise ein sehr schwergewichtiges Problem. Vor uns grasen drei Nilpferde, sie sehen aus wie Papa, Mama und ein Kleines. Wir ändernunseren Plan und gehen ganz weit links nahe dem See vorbei, in grossem Bogen. Wir landen zwar im Sumpf, aber immer noch besser als eine Konfrontation mit den Nilpferden, die sich ruhig in Richtung Fluss bewegen. Was die Hunde wohl dazu meinen?

16. Januar, 15 Uhr
«OK, alles gut, ihr könnt ruhig näher kommen.» Gracien gibt das entsprechende Kommando und die Ranger wagen sich näher an unsere Lastwagen heran. Die Hunde sitzen in ihren Transportkisten im Schatten. Wir haben beschlossen, zwei Fliegen auf einen Schlag zu treffen, und geben den Rangern die Möglichkeit, ihre Fähigkeit mit den Waffen zu üben, während ich mit den Hunden arbeite und sie an die Schüsse gewöhne. Alles geht gut, die Hunde halten sich grossartig!

19. Januar, 9 Uhr
«Eii!» Gracien hopst auf einem Bein im Sumpf herum, der Stiefel steckt im Schlamm. Ich, selbst bis zur Hüfte im Wasser stehend, übernehme Lily, um ihm die Möglichkeit zu geben, seinen Stiefel wieder anzuziehen. Wir haben gestern Abend eine Fährte gelegt, Sedric, Mustari und ich. Ich wollte dabei in elegantem Bogen um den Sumpf und den Bach herum, sie gingen direkt hindurch. «Danke vielmals!» Ich muss heute fünf Mal da durch, während sie im Lager schön trocken auf die Hundeteams warten. Der Direktor des Parks, Emmanuel, und sein Chef Sicherheit Gilbert sind heute mit von der Partie. Sie sind mit dem Parkflugzeug gestern Abend hinzugestosssen und verfolgen heute gespannt die Übung. Sie sind gar nicht zimperlich und stapfen tapfer hinter uns durch den Sumpf.

20. Januar, 11 Uhr
Flutsch, der Zweig knallt mir ins Gesicht, ich sehe gar nichts mehr, vor mir kracht in Höchsttempo die Hündin Lily mit Gracien im Schlepptau durchs Dickicht. Nach der Savanne ist jetzt der Urwald an der Reihe. Anders als ich gedacht habe, ist das für die Hunde überhaupt kein Problem, wohl aber für die Hundeführer, die versuchen, irgendwie hinter dem Hund durch den Urwald zu kommen. Eines ist klar, da müssen Schutzbrillen und Handschuhe her, auch gutes Schuhwerk, um Verletzungen vorzubeugen. Nur wie kann das wieder finanziert werden? Das Geld ist sehr knapp und reicht nur für das Nötigste. Irgendwie muss ich eine Lösung finden. Es gehört mit zu meiner Arbeit, hier ein Sponsoring aufzubauen, um das Bestehen der Hundegruppe zu sichern; das wird schwierig, aber es muss einfach sein, für den Park, für das Überleben der Gorillas.

Hier können Sie den Artikel aus dem Magazin als PDF ansehen

geschrieben von:
Dr. med. vet. Marlene Zähner

Dr. med. vet. Marlene Zähner

Dr. med. vet. Marlene Zähner ist Tierärztin mit Spezialgebiet Fortpflanzung, Hundezucht und Tierschutz und war während vieler Jahre Assistentin am Tierspital Zürich. Sie lebte mehrere Jahre in den USA. Seit Juni 1999 ist sie Geschäftsführerin der Stiftung für das Wohl des Hundes. Marlene Zähner züchtet seit 1989 Bloodhounds und seit 1996 Scottish Terrier. Sie bildet Personensuchhunde für die Polizei- und Rettungsarbeit aus und ist Präsidentin des Basset- und Bloodhound-Clubs der Schweiz (BBCS). www.certodog.ch

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