Warum ist der Hund der Hund, der er ist? Teil 1/2

Über die vor- und nachgeburtlichen Einflüsse auf Hundewelpen

Wir holen uns einen kleinen zehnwöchigen Racker ins Haus und denken, wir können noch alles in die gewünschten Bahnen lenken ‒ dem ist nicht ganz so. Was aus unserem Welpen das gemacht hat, was er ist, erklärt Ihnen Sophie Strodtbeck.

Text: Sophie Strodtbeck

In der Regel kommen die Hunde, die von Züchtern abgegeben werden, im Alter von 8 bis 12 Wochen zu ihren neuen Besitzern. Dieses Zeitfenster sollte, wenn immer möglich, weder unter- noch überschritten werden. Ich rate zu einem Abgabezeitpunkt von nicht unter 10 Lebenswochen. Aber natürlich nur dann, wenn der Welpe im Züchterhaushalt optimale Bedingungen vorfindet! Jeder Welpe bringt beim Einzug in sein neues Zuhause seine ganz individuelle Vorgeschichte mit. Denn er hat in seinem kurzen Erdendasein bereits ein ganze Menge Erfahrungen gemacht und vieles gelernt. Vom Tag seiner Geburt an muss er sich mit seiner Umwelt auseinandersetzen, mit ihr interagieren und auf sie reagieren. Auf die unterschiedlichen Reize, mit denen er konfrontiert wird, reagiert der Welpe gemäss seinen genetischen Anlagen.

Wichtig zu wissen ist, dass die Grundlagen für die spätere Persönlichkeitsentwicklung des Welpen noch früher, nämlich bereits im Mutterleib, gelegt werden. Ein neugeborener Welpe ist also kein unbeschriebenes Blatt! Der Welpe, der zu Ihnen ins Haus kommt, ist die Summe seiner bisherigen Erfahrungen. Sein Verhalten ist zu 100 Prozent genetisch bedingt und zu 100 Prozent erlernt. Diese Erklärung erscheint nur auf den ersten Blick paradox. Zwischen einem Welpen und seiner Umwelt kommt es ständig zu einer Wechselwirkung. Basierend auf seinen genetisch fixierten und disponierten Anlagen, reagiert er auf die unterschiedlichsten Umweltreize, macht dadurch Lernerfahrungen und passt sich so, übrigens auch ganz ohne menschlichen Einfluss, den unterschiedlichsten Lebenssituation an.

Wie er wurde, was er ist

Wie erwähnt, hat der Welpe, der bei Ihnen einzieht, bereits eine ganze Reihe von Erfahrungen gemacht. Am wichtigsten ist natürlich erst einmal die Mutterhündin. Wo kommt sie her? Wie ist ihre Persönlichkeit? In welcher Umgebung und vor allem unter welchen Umweltbedingungen hat sie die Zeit ihrer Trächtigkeit verbracht? Es ist ein Unterschied, ob sie mit qualitativ hochwertigem Futter ernährt wird, in der Obhut sozial kompetenter Hundehalter in einem Zuhause mit ausreichender Pflege ihre Trächtigkeitsmonate verbringt oder täglich um die wenigen Abfälle mit anderen konkurrierend auf den Strassen von Bukarest hochtragend zu überleben versucht.

Vorgeburtliche Einflüsse

Was man bei anderen Tierarten schon seit den 1950er-Jahren weiss, nämlich dass Ratten von Rattenmüttern, die in der Trächtigkeit Stress ausgesetzt waren, auch als Erwachsene ängstlicher und weniger stressresistent sind, ist inzwischen auch beim Hund nachgewiesen: Die Verhaltensentwicklung beginnt bereits im Mutterleib und hängt davon ab, welche Einflüsse die Hündin in der Zeit der Trächtigkeit erfährt. Dauerstress bei der Hündin führt bereits in der Gebärmutter zu Veränderungen im Gehirn der Welpen. Jungtiere aus solchen Verhältnissen kommen unsicher und mit weniger gut ausgebildeten Kompetenzen zur Welt. Sie entwickeln keine so guten Stressbewältigungsstrategien; ihre Lern- und Bindungsfähigkeit ist eingeschränkt und auf Aussenreize reagieren sie oft unpassend, also entweder mit Ängstlichkeit und Rückzug oder mit unangemessener Aggressivität. Sie haben somit denkbar ungünstige Startbedingungen, die man nur mit viel Mühe, oft aber überhaupt nicht in richtige Bahnen lenken kann. Das so oft gehörte «der ist ja noch jung, da ist noch alles drin, wir haben ja noch die ganze Prägephase vor uns», stimmt also nur bedingt.

Stress beginnt im Mutterleib

Erlebt die Mutter in der Trächtigkeit Stress, wird das Stresshormon Kortisol aus der Nebennierenrinde ausgeschüttet. Dieses fettlösliche Hormon ist plazentagängig, das heisst, es kann über den Nabelschnurkreislauf in die Welpen gelangen ‒ und dort hinterlässt es Spuren. Die Veränderungen in der Verhaltensentwicklung, die der Welpe vorgeburtlich erfährt, sind also nicht durch Lernerfahrungen bedingt, sondern laufen auf hormoneller Ebene ab. Dies passiert vor allem im letzten Drittel der Trächtigkeit, die beim Hund normalerweise 63 Tage dauert. Die Folgen sind fatal, da sie sich direkt auf das Stresszentrum der Welpen auswirken. Denn das Stresszentrum im Welpenhirn wächst mit seinen Aufgaben, sprich: je mehr Kortisol über die Mutter darauf einwirkt, desto grösser und reaktiver wird es. Und das bleibt ein Hundeleben lang so.

Dieses Stresszentrum im Gehirn der Welpen hat wiederum direkte Verbindungen zur Nebenniere, die die Stresshormone produziert. Das sind die Hormone Kortisol (Nebennierenrinde), Adrenalin und Noradrenalin (Nebennierenmark). Diese beiden Stresshormonsysteme bleiben ein Hundeleben lang leichter erregbar als bei Hunden, die diesen vorgeburtlichen Einflüssen nicht ausgesetzt waren. Hunde mit solch einer Vorgeschichte reagieren also unter Umständen ihr Leben lang viel heftiger auf kleinste Stressoren, die für einen Hund nicht der Rede wert sind, der diese vorgeburtlichen Einflüsse nicht hatte.

Anfälliger für Krankheiten

Die vorgeburtliche Stresshormon-Flut hat auch andere Auswirkungen: Zum einen sind die Welpen weniger widerstandsfähig gegen Infektionen, weil Kortisol das Immunsystem unterdrückt. Zum anderen senkt es bei der Mutterhündin den Spiegel des Schwangerschaftshormons Progesteron, das für die Aufrechterhaltung einer Trächtigkeit notwendig ist. Die Folge ist, dass die Welpen im Mutterleib schlechter versorgt werden. Tatsächlich findet man bei Welpen von dauergestressten Hündinnen oft geringere Geburtsgewichte und die Kleinen schaffen auch nicht die Tagesgewichtszunahmen, die Welpen von stabilen und ungestressten Hündinnen erreichen.

Man weiss, dass aufgrund des vorgeburtlichen Stresses der Mutter bzw. bei einer in den ersten Lebenswochen der Welpen überforderten Hündin weniger Bindungsstellen, sogenannte Rezeptoren, für das Bindungshormon Oxytocin im Welpen angelegt werden. Also hat der Zustand der Mutterhündin rund um den Geburtszeitpunkt und in den ersten Lebenswochen direkten Einfluss auf die Bindungsfähigkeit der Hunde. Das Oxytocin hat zugleich stressdämpfende Wirkungen, es ist also ein Gegenspieler der Stresshormone.

Den Hundecharakter akzeptieren

Wenn der Hund erst auf der Welt ist, kann man also vieles nicht mehr ändern. Darum ist es so wichtig, auf die Herkunft des Hundes Wert zu legen – oder wenn man das nicht kann/will, sich darüber im Klaren zu sein, dass dieser Hund unter Umständen jede Menge Altlasten im Gepäck hat, mit denen man sich arrangieren muss. Natürlich kann man an diesen Baustellen arbeiten und muss es sogar, aber gewisse Dinge lassen sich eben nicht mehr ändern. Oft nimmt man sehr viel Druck aus einem Mensch-Hund-Team, wenn man die Charaktereigenschaften eines Hundes akzeptiert – ohne sie als Ausrede zu verwenden! – und versteht, dass nicht aus jedem Hund der «Kumpelhund» wird, der einen in die Grossstadt begleitet, Nerven wie Drahtseile hat und sich im Tumult eines Hauptbahnhofs wohlfühlt. Unter Hundepersönlichkeiten gibt es eine ebenso grosse Vielfalt wie unter menschlichen Charakteren. Wenn ich meinen Hund mit seinen Anlagen so nehme, wie er ist, und nicht auf Teufel komm raus versuche, ihn zu dem zu verbiegen, was ich gerne hätte, wird das Leben für Hund und Mensch in vielem leichter.

Die Entwicklungsphasen eines Hundes

Welche Einflüsse auf den ungeborenen Welpen einwirken, haben wir besprochen. Jetzt werfen wir einen Blick auf die wichtigsten Entwicklungsphasen des Welpen, weil auch sie natürlich die spätere Persönlichkeit des Hundes beeinflussen.

Die erste Phase im neugeborenen Hundeleben ist die sogenannte neonatale Phase, die von der Geburt bis zum 14. Lebenstag dauert. Die kleinen Würmchen können anfangs nicht viel tun, ausser zu wachsen, zu schlafen, zu saugen und auszuscheiden. Aber selbst das Ausscheiden von Kot und Harn funktioniert zunächst nur mit Hilfe der Mutter, die dazu die Anogenitalregion der Kleinen mit der Zunge stimulieren muss. Die Zwerge sind auch noch nicht in der Lage, ihre Körpertemperatur allein zu regulieren, denn sie können erst ab der zweiten Lebenswoche zittern, um durch die Muskelkontraktionen Wärme zu bilden. Aber sie können bereits warm und kalt unterscheiden. Wenn sie versehentlich zu weit entfernt von der Mutter liegen und drohen auszukühlen, reicht ein genetisch fixierter Hilfeschrei, damit die Mutter kommt, um den Abtrünnigen wieder in den wärmenden Bereich zurückzutragen.

Bei den Welpen funktionieren aber bereits Geschmacksempfinden, Geruchs- und Tastsinn sowie natürlich die Bereiche im Gehirn, die für Atmung, Herzschlag und Gleichgewichtssinn zuständig sind. Ausserdem zeigen sie schon Schmerzreaktionen und Schreckreaktionen auf laute Geräusche. Der Rest des Gehirns, des Körpers und des Nervensystems wächst und entwickelt sich.

Im zentralen Nervensystem kommt es zur Bildung von Schutzhüllen (Myelinscheiden) um die Nervenfasern. Dieser Prozess beginnt im Gehirn und setzt sich langsam nach hinten und unten fort. Das erklärt, warum die Motorik von Hundewelpen anfangs vorne besser funktioniert als hinten.

Erstes Lernen

Übrigens ist milder(!) Stress in dieser Phase vorteilhaft. Ein leicht frierender oder auch hungernder Welpe muss aktiv werden, um zum Beispiel sein Bedürfnis nach Wärme oder Nahrung zu befriedigen. Dabei bekommt er ganz nebenbei erstmals in seinem Leben Grundinformationen über das Prinzip des Lernens. Man könnte hier sogar von Clickertraining für Neugeborene sprechen: Der Welpe hat ein Bedürfnis, wird aktiv und bekommt für die richtige Problemlösung eine Belohnung in Form von Wärme oder Muttermilch. Ausserdem fördert dieser milde Stress das Immunsystem und sorgt dafür, dass der Hund sein Leben lang mit Stress und verschiedenen Belastungen besser umgehen kann – eine wichtige Grundvoraussetzung für ein langes und zufriedenes Hundeleben.

Die dritte Lebenswoche eines Welpen wird als Übergangsphase bezeichnet, der Welpe öffnet die Augen und die Ohren und tritt erstmals mit seiner Umwelt in Kontakt.

Es folgt die Sozialisationsphase, die fliessend in die sogenannte Juvenilphase übergeht; sie ist die entscheidende Phase im Hundeleben. Zu Beginn dieser Phase nehmen die Neugier und die sozialen Beziehungen sowohl zu den Geschwistern als auch zu den menschlichen Mitbewohnern zu. Ausserdem kommt es bis zur sechsten Lebenswoche immer noch zu Zellteilungen im Hundehirn. Danach ist allerding Schluss damit, ab dann werden «nur noch» bestehende Nervenzellen weiter vernetzt und die Vernetzungen werden stabilisiert. Nur Verknüpfungen, die benötigt werden, bleiben auch bestehen. Alles, was nicht benötigt wird, weil die Reize fehlen, die es als Stimulus dafür braucht, wird in der Pubertät unwiderruflich abgebaut.

Je mehr Umwelteindrücke der Hund also erfährt, desto mehr stabile Verknüpfungen entstehen und desto leistungsfähiger sind nachher der Hund, sein Gehirn und sein Organismus. Hunde, die in dieser Phase die für sie und ihre Umwelt richtigen und wichtigen Reize präsentiert bekommen, können sich ihr Hundeleben lang besser auf Stress und wechselnde Lebensbedingungen einstellen. Zu diesen Reizen gehören zum Beispiel der Lebensraum, Artgenossen, Menschen, Geräusche, Futter und vieles mehr. Die Qualität und die Quantität der erfahrenen Umwelteindrücke bilden dann quasi ein Referenzsystem aus, das bei allen späteren Entscheidungen herangezogen wird. Positive Lernerfahrungen, die besonders in dieser Zeitspanne enorm wichtig sind, vermitteln dem Welpen ein Gefühl von emotionaler Sicherheit und Kontrolle über die an ihn gestellten Anforderungen und stärken dadurch sein Selbstvertrauen.

Darum sollte der Hund gerade in dieser Zeit so viel positive Erfahrungen wie möglich machen, um das Risiko von eventuell später auftretendem unangemessenem Meideverhalten in alltäglichen Situationen so gering wie möglich zu halten. Alles in dieser Zeit als negativ Abgespeicherte kann weitreichende Folgen für das spätere Verhalten des Hundes haben! Passen Sie also gut auf Ihren Welpen auf und tragen Sie dafür Sorge, dass er keine negativen Erfahrungen macht, die er nicht bewältigen kann.

Fordern, aber nicht überfordern

Für Sie als Halter ist es wichtig, dass Sie den Welpen zwar früh fördern und fordern, ihn aber keinesfalls überfordern! In dieser Zeit ist es für Ihren Hund wichtig, dass er Reize präsentiert bekommt, die er aktiv aufsuchen kann, wenn er will, dass er aber nicht durch ein «Zuviel» überfordert wird. Heutzutage sieht man sehr viele überforderte Hunde – meist passiert das durch Unwissenheit des Besitzers, der es in der Regel optimal machen will und dabei über das Ziel hinaus schiesst. Auch hier gilt: Die Dosis macht das Gift. Also ist montags Hauptbahnhof, dienstags Flughafen, mittwochs Fussgängerzone, donnerstags Hundeschule … nicht zielführend.

Lassen Sie Ihren Hund das Tempo bestimmen, mit dem er neue Reize kennenlernen möchte. Bieten Sie ihm verschiedene Geräusche, Dinge, Menschen, Bodenuntergründe, Futtersorten und Ähnliches an, aber überlassen Sie ihm die Geschwindigkeit der Kontaktaufnahme, er wird das für ihn richtige Tempo finden.

Das Wichtigste in Kürze:

  • Die Grundlagen für die spätere Persönlichkeitsentwicklung des Welpen werden bereits im Mutterleib gelegt. Sie hängt davon ab, welche Einflüsse die Hündin in der Zeit der Trächtigkeit erfährt.
  • Dauerstress bei der Mutterhündin führt bereits in der Gebärmutter zu Veränderungen im Gehirn der Welpen.
  • Welpen, deren Mutter in der Trächtigkeit gestresst war, entwickeln keine so guten Stressbewältigungsstrategien; ihre Lern- und Bindungsfähigkeit ist eingeschränkt und auf Aussenreize reagieren sie oft unpassend.
  • Die vorgeburtliche Stresshormon-Flut hat auch andere Auswirkungen, z. B. sind die Welpen weniger widerstandsfähig gegen Infektionen.
  • Milder Stress bei Saugwelpen ist vorteilhaft. Ein leicht frierender oder auch hungernder Welpe muss aktiv werden. Zudem fördert dieser milde Stress das Immunsystem und sorgt dafür, dass der Hund sein Leben lang mit Stress und verschiedenen Belastungen besser umgehen kann.
  • Positive Lernerfahrungen vermitteln dem Welpen ein Gefühl von emotionaler Sicherheit und Kontrolle über die an ihn gestellten Anforderungen und stärken dadurch sein Selbstvertrauen.
  • Fördern Sie den Welpen früh, aber überfordern Sie ihn keinesfalls.

 

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geschrieben von:
Sophie Strodtbeck

Sophie Strodtbeck

Sophie Strodtbeck (*1975) hat ihr Studium 2002 an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Tierärztin abgeschlossen. Berufserfahrung sammelte sie in verschiedenen Praxen. Seit längerer Zeit ist sie in einer Hundeschule für tiermedizinische Belange zuständig und bietet zusammen mit Udo Ganslosser verhaltensmedizinische Beratungen an. Nebenher schreibt sie Artikel für diverse Hundezeitschriften und teilt ihr Leben derzeit mit vier eigenen Hunden.

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