Marotte oder Zwangsstörung?

Jule, eine verschmuste Cocker-Dame, ist wie ausgetauscht, wenn ihr Herrchen beim Spaziergang einen Ball aus seiner Jackentasche zieht. Dann gibt es für Jule weder Freund noch Feind, weder Eichhörnchen noch Hase ja, sogar Leckerli sind ihr total egal. Hauptsache, der Ball fliegt weit durch die Luft und sie kann ihn jagen. Ist Jule eine leidenschaftliche Sportlerin, die das Balljagen liebt, oder ist sie ein Balljunkie, der dem Ball nachjagen muss, ohne die Jagd wirklich zu lieben?

Bilbo, ein freundlicher Bullterrier-Mix, hat schon als Welpe seinen Schwanz ab und zu spielerisch gejagt. Damals fanden das alle lustig. Doch nun macht er das immer öfter und ausdauernder. Ausserdem wirkt er eher ernst als verspielt dabei. Ist das noch Spiel oder handelt Bilbo einem inneren Zwang folgend?

Prutus, ein eleganter Dobermann, nuckelt jeden Abend selbstvergessen an seiner Decke, bis er dann irgendwann einschläft. Zwingt ihn eine «innere Stimme» dazu oder ist das einfach eine liebenswerte Marotte, die er schon morgen einfach so wieder aufgeben könnte?

 

Sucht ohne Droge 

Unter Zwangsstörungen versteht man Handlungen oder Bewegungen, die der Situation nicht angepasst sind und ständig wiederholt werden. Bei Hunden zählen Schwanzjagen, Pfotenlecken, Flanken- oder Deckensaugen und im Kreis laufen zu den häufigsten Zwangsstörungen. Einige Tiere belecken auch zwanghaft Böden oder Möbel oder bellen ausdauernd und monoton.

Eine Sonderform der Zwangsstörung stellt das Halluzinieren von Fliegen oder Mäusen und die Jagd nach diesen Trugbildern dar. Grundsätzlich kann jede Verhaltensweise zwanghaft sein, wenn sie aus ihrem normalen Zusammenhang gerissen gezeigt und immer wieder ausgeführt wird.

Sowohl Menschen als auch Hunde, die an einer Zwangsstörung leiden, weisen Veränderungen im Belohnungssystem des Gehirns auf. Vergleichbare Veränderungen findet man auch bei Suchtkranken. Ob diese Veränderungen im Belohnungssystem Ursache oder Folge der Zwangsstörung sind, weiss man allerdings nicht.

 

Formen des Zwangs

Beim Menschen unterscheidet man je nach Krankheitsbild zwischen Ticks, Stereotypien, Obsessionen (Zwangsvorstellungen), Kompulsionen (Zwangshandlungen), obsessiv-kompulsiven Störungen und substitutiven Aktivitäten. Beim Hund beschränkt man sich hingegen in der Regel auf eine Unterscheidung zwischen Stereotypien und den komplexeren obsessiv-kompulsiven Störungen (Obsessive Compulsive Disorders = OCD).

Eine Stereotypie hat weder Zweck noch Ziel. Wiederholtes und nicht enden wollendes Schwanzjagen oder sich im Kreise drehen sind Beispiele für Stereotypien. Meist treten die ersten Symptome bereits beim jungen Hund in Stress-Situationen auf. Später wird das Verhalten jedoch auch ohne erkennbaren Auslöser gezeigt.

Bei einer obsessiv-kompulsiven Störung hingegen unterstellt man, dass der Hund mit seiner Zwangsstörung eine Art Ziel verfolgt: Ein Hund, der dauernd auf seiner Decke herumkaut, versucht auf diese Weise eventuell unbewusst Stress abzubauen und zur Ruhe zu kommen, ein Pfotenlecker eventuell Schmerzen oder Juckreiz zu lindern.

 

Die Grenzen sind fliessend

Die Grenzen zwischen ritualisierter Gewohnheit und Zwangsstörung erscheinen beim Hund oft fliessend. Häufig wird die Zwangserkrankung des Hundes daher erst erkannt, wenn er bereits schwere Symptome zeigt, sich beispielsweise selbst verletzt oder keine Ruhe mehr findet.

Grundsätzlich sollte man hellhörig werden, wenn der Hund seine Marotte oder Angewohnheit immer öfter zeigt und sich immer weniger davon ablenken lässt, denn Zwangsstörungen werden mit der Zeit meist schlimmer. In schweren Fällen kann der Hund sein Verhalten überhaupt nicht mehr kontrollieren. Selbst Schlaf, Futteraufnahme, Erkundungs- und Sozialverhalten werden durch die Zwangsstörung unterbrochen.

Je eher man in diesen Fällen einen Tierarzt für Verhaltenstherapie aufsucht, desto besser lassen sich Zwangsstörungen kontrollieren ‒ und im besten Falle auch heilen. Weil viele Zwangsstörungen körperliche Ursachen haben, die tierärztlich behandelt werden müssen, sollte ein spezialisierter Tierarzt und kein Hundetrainer konsultiert werden.

 

Wie entsteht der Zwang?

Die Ursachen für eine Zwangsstörung können häufig nicht eindeutig benannt werden. Mit Sicherheit spielt eine erbliche Veranlagung bei vielen Zwangserkrankungen eine wichtige Rolle. So weiss man, dass sogar ganz bestimmte Zwangshandlungen, wie zum Beispiel das Schwanzjagen oder das Decken nuckeln, in bestimmten Rassen und Linien vermehrt auftreten.

Bei Hündinnen entstehen Zwangsstörungen häufig direkt nach der Läufigkeit, aber warum das so ist, weiss man noch nicht. Hinter dem «Fliegenschnappen» soll eine Art Epilepsie stecken. Die Epilepsie lässt sich mit Medikamenten weitgehend kontrollieren. Allerdings kann die Zwangsstörung weiter bestehen – der Hund hat dann dieses zuerst durch die Epilepsie ausgelöste Verhalten so verinnerlicht, dass es nun selbstständig auftritt.

Bei Fällen von Zwangsstörungen sind falsche Haltungsbedingungen insbesondere in der Welpenphase die Ursache. So können eine mangelhafte Sozialisation (Gewöhnung an Mensch und Tier) und Habituation (Gewöhnung an die unbelebte Umwelt) des Welpen dazu führen, dass das Tier Zwangsstörungen entwickelt. Eine nicht artgerechte, reizarme Haltungsform kann ebenso stereotypes Verhalten verursachen wie das Leben in ständiger Angst, beispielsweise bei für den Hund unberechenbaren und brutalen Trainingsmethoden.

Zwangsstörungen können auch erlernt sein. Ein Beispiel für eine erlernte Zwangsstörung ist das Pfotenlecken nach dem Abheilen einer juckenden Hauterkrankung. Während der Erkrankung hat der Hund gelernt, wie wohl das Belecken der Pfoten tut. Es hat den Juckreiz gelindert, die Pfote gekühlt und ihn von seinem Unwohlsein abgelenkt. Die Verknüpfung: «Lecken ‒ Wohlfühlen ‒ Belohnen» bleibt bestehen.

 

Keine pauschalen Lösungen

Gleichgültig wie eine Zwangsstörung auch entstanden sein mag, durch die üblichen Erziehungs- und Trainingsmethoden lässt sie sich jedenfalls nicht beheben. Zunächst muss immer abgeklärt werden, ob es eine fassbare körperliche Ursache wie beispielsweise eine juckende Hautentzündung, schmerzhafte Prozesse oder neurologische Probleme gibt. Wenn die körperlichen Ursachen behandelt werden oder keine Erkrankung festgestellt wird, muss der Tierarzt für Verhaltenstherapie ein massgeschneidertes Therapieprogramm für den zwanghaften Patienten entwickeln.

Zu Beginn der Therapie kann dabei die Gabe von Psychopharmaka unumgänglich sein, weil der Hund nur so wieder ansprechbar wird. Die medikamentöse Therapie muss aber immer von einem Trainingsprogramm begleitet werden, damit der Hund die Chance hat, sein zwanghaftes Verhalten wieder zu verlernen. Der Erfolg der Therapie hängt auch davon ab, ob tatsächlich die ganze Familie an einem Strang zieht und geduldig Schritt für Schritt mit dem Hund arbeitet.

In sehr schweren Fällen kann aber auch jede Mühe erfolglos bleiben. Bei Hunden, die sich fortwährend selbst schaden, sei es, weil sie sich trotz Therapie weiter selbst verletzen oder gehetzt von ihrem Zwang einfach nicht mehr zur Ruhe kommen, muss zum Wohle des Tieres auch eine Einschläferung erwogen werden.

Text: Barbara Welsch

Hier können Sie den Artikel aus dem Magazin als PDF ansehen

geschrieben von:
Barbara Welsch

Barbara Welsch

Barbara Welsch ist Tierärztin und hat in einer Kleintierpraxis bei Stuttgart gearbeitet. Mittlerweile ist sie ausschliesslich als Medizin- und Wissenschaftsjournalistin in München tätig und schreibt für Hunde- und Tierzeitschriften sowie medizinische und veterinärmedizinische Journale. Ausserdem betreibt sie den Blog www.pfotenleser.de, indem es um aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse rund um den Hund geht.

Ein Kommentar zu “Marotte oder Zwangsstörung?

  1. Kalinka Jeitler

    Hallo! Guter Artikel, hilft mir aber immer noch nicht. Mein Foxterrier ist aus einer Topzucht, gesund, perfekt sozialisiert, liebt alle Hunde und Menschen, kann 7 Stunden alleine bleiben. Er bellt nicht, zerstört nichts, ist mit seinem Leben zufrieden. Ein ruhiger, lieber Hund. Sperrt man ihn im Auto in den Schutzkäfig, dreht er durch, bellt hysterisch, wie zwanghaft. Der Käfig ist komplett zerbissen. Bin auf der Suche nach einem für Polzeihunde. Er beißt in jede Türe, die zugeht. Den Gartenzaun aus Holz hat er komplett zerbissen. Er stellt überhaupt keine Barriere für ihn mehr da. Aber er muss weiter zerbissen werden. Sobald er angeleint ist, versucht er die Leine zu zerbeißen. Ist ihm auch schon oft gelungen. Am Schlimmsten sind Lifte. Da hat er den meisten Stress, beißt sogar in Metalltüren. Keine Ahnung was er hat. Kann es damit zusammenhängen, dass der Züchter eine Schliefenanlage mit zwei Füchsen hatte? Er hat wahrscheinlich die Welpen schon dahin mitgenommen. Ich kann ihn nicht mehr fragen, er ist an Corona gestorben. lg

    Antworten

Ihre Meinung interessiert uns – Kommentar schreiben


Name (erforderlich)

Webseite