Jeder aufrichtige Züchter ist sich darüber bewusst, dass nie alle Welpen in einem Wurf perfekt sind, dem Idealbild des Körperbaus und dem des Wesens entsprechen. Trotzdem sind es liebenswerte und tolle Hunde. Doch auch Behinderungen können vorkommen. Wir berichten über die Aufzucht und das Leben mit einer beeinträchtigten Hündin.
Die ersten drei Wochen Nichts deutete darauf hin, dass die dritte Geburt der gesunden, kräftigen und sehr erfolgreichen Samojeden-Mitteldistanzrennhündin anders werden würde als die zwei vorhergehenden, die absolut unkompliziert waren. Aber am dreiundsechzigsten Trächtigkeitstag beunruhigte Anári ihre Besitzer Gudrun und Markus Weisshaupt, denn auf einmal verfärbte ein dunkler Ausfluss ihr weisses Fell und dies ohne klare Anzeichen von Wehen. Nach Rücksprache mit dem Tierarzt wurden kurze Zeit später sechs hübsche, normalgewichtige Welpen per Kaiserschnitt zur Welt gebracht.
Mama Anári erholte sich schnell und nahm ihre Welpen gut an. Bald kehrte Ruhe ein und die Kleinen schmatzten zufrieden in der Welpenkiste. Alles schien in bester Ordnung ‒ bis zum dritten Tag ‒ wo Hilja, das zweitleichteste Mädchen, auf einmal an Gewicht verlor. Bei der Kontrolle in der Tierklinik bekam die Kleine eine Infusion gegen die drohende Dehydrierung sowie eine unterstützende Nährlösung. Auch daheim wurde sie weiter in regelmässigen Abständen mit Infusionslösung versorgt sowie von Gudrun und Markus, wann immer möglich, gezielt an eine Zitze angesetzt. Dank dieser Spezialbetreuung begann Hilja konstant an Gewicht zuzunehmen; sie blieb aber immer viel leichter als ihre Wurfgeschwister. Um den zehnten Tag bemerkte das Züchterehepaar, dass sich Hiljas Kopf anders entwickelte als der ihrer Geschwister: Der Schädel wirkte viel runder und zarter. Nach dem Öffnen der Augen fiel Hilja durch verlangsamte Reaktionen auf Licht- und Bewegungsreize auf.
Diagnose Hydrocephalus
Mit drei Wochen war ein weiterer Besuch beim Tierarzt angesagt, der die befürchtete Diagnose bestätigte: Hydrocephalus (Wasserkopf). Der Ultraschall durch die offene Fontanelle vermittelte Gewissheit und auch die Erklärung dafür, warum Hiljas gesamte Entwicklung gegenüber der der gesunden Welpen stark verlangsamt war. Die meisten Züchter hätten Hilja wohl gleich auf dem Tierarzttisch liegen lassen. Aber für Gudrun und Markus Weisshaupt kam es zuchtethisch nicht infrage, einen Welpen mit Behinderung, aber dennoch guter Lebensqualität und ohne sichtbare Schmerzen einzuschläfern.
In diesen drei Wochen war Hilja der ganzen Familie ans Herz gewachsen. Der kleine Sonnenschein entwickelte einen enormen Lebenswillen. Mittlerweile kämpfte sie um ihre Zitze und wurde von Mama Anári und Grosstante Unna voll akzeptiert und genau gleich gut behandelt wie alle anderen Welpen. Beim Gruppenkuscheln war die zarte, ruhige Hilja stets gut integriert und wurde zu keinem Zeitpunkt durch die Geschwister gemobbt. Einzig beim wilden Welpentoben sass Hilja eher passiv, aber fröhlich staunend neben dem Geschehen.
Wie geht es weiter?
Da es sehr schwierig ist, für einen behinderten Welpen den optimalen Platz zu finden, war es von Anfang an klar, dass Hilja bei den Züchtern bleiben durfte, auch ohne Aussicht auf eine Schlittenhundekarriere.
Einen behinderten Welpen grosszuziehen war jedoch keine einfache Aufgabe, denn das ganze Sozialisierungsprogramm funktionierte bei Hilja nur begrenzt. Klein-Hilja durfte sehr viele positive Erfahrungen machen. Gesunde Welpen hätten diese vielseitigen Erfahrungen im Hirn als positive Referenzerlebnisse gespeichert, aber bei Hilja funktionierte dies nur bedingt, denn ihre geistige Entwicklung war reduziert und liess sich nicht mit der der Wurfgeschwister vergleichen. Hilja hört sehr gut, aber ihr Sehvermögen ist stark eingeschränkt. Vermutlich sieht sie nur schemenhaft. Dies kann der Grund sein, warum sie in neuen Situationen sehr unsicher reagiert und etwas orientierungslos wirkt. Interessant ist, dass ihr das Brustgeschirr und die Leine Sicherheit vermitteln. Unbekannte Geräusche oder Begegnungen mit fremden Hunden, die sie nicht einschätzen kann, weil sie diese meist erst kurzfristig wahrnimmt, können sie sehr beunruhigen. Somit ist ein normaler Kontaktaufbau mit fremden Hunden erschwert.
Glücklicherweise hat Hilja genügend soziale Kontakte daheim. Sie fühlt sich im Drei-Generationen-Rudel sehr wohl und liebt es, mit den anderen Hunden im Auslauf zu toben. Ihre beste Freundin ist die Wurfschwester Hyvä. Die zwei Mädels sind unzertrennlich und in neuen Situationen strahlt Hyvä Zuversicht und Sicherheit aus, was Hilja sehr hilft. Gudrun und Markus beobachten ihre Hunde immer sehr aufmerksam und es erstaunte sie, wie viele neue und wertvolle Erkenntnisse sie über das Rudelverhalten durch Hilja gewinnen konnten. Interessanterweise geniesst Hilja in ihrem Rudel grosszügige Narrenfreiheit: Sie darf zum Beispiel als einzige ihre Nase in fremde Futtertöpfe stecken.
Mit sechs Monaten erlitt Hilja erstmals einen leichten epileptischen Anfall – nichts Aussergewöhnliches, wenn der Liquor (Hirnwasser) auf gewisse Hirnbereiche drückt. Glücklicherweise gab es nur wenige Folgeanfälle. Heute ist Hilja anfallsfrei, da sie sehr gut auf das Medikament anspricht.
Ein sehr guter Entscheid
Mittlerweile ist Hilja zwei Jahre alt. Sie ist eine fröhliche und sehr verschmuste Hündin mit einem unglaublichen Charme. Ihr Verhalten deutet darauf hin, dass sie keine Schmerzen zu haben scheint. Ihre Sehbehinderung und ihre motorische Instabilität stören sie nicht gross – sie kennt ja nichts anderes ‒ denn sie zeigt täglich, dass sie ein glücklicher Hund ist, der das Leben voll und ganz geniesst.
Niemand kann voraussagen, wie sich Hiljas Lebensqualität weiterentwickeln wird. Vielleicht führt ihre motorische Behinderung später einmal zu einem orthopädischen Problem oder der Druck im Kopf könnte sich verändern und zu zusätzlichen gesundheitlichen Problemen führen. Leider gibt es sehr wenig dokumentierte Beispiele über Hunde mit Hydrocephalus. Hilja scheint eine milde Form von Wasserkopf zu haben, denn es gibt Fälle, wo Welpen früh erblinden und schon in den ersten Wochen so starke Schmerzen bekommen, dass sie eingeschläfert werden müssen.
Insofern hatte Hilja Glück, aber auch damit, dass sie bei erfahrenen und liebevollen Züchtern zur Welt kam, die ihre ethische Verantwortung wahrnahmen und offen mit Hiljas Behinderung umgehen. Für die Weisshaupts ist Hilja eine absolute Bereicherung und sie erklären unisono, dass die «Kleine» leben zu lassen und zu fördern ein sehr guter Entscheid war.
Text: Eva Holderegger Walser
Hydrocephalus
… bedeutet auf Griechisch Wasserkopf. Bei einem Wasserkopf sind die Produktion und der Abbau des Liquors (Gehirnwasser) nicht ausgeglichen. Diese Störung ist meistens angeboren, kann aber auch im späteren Leben erworben werden.
Wenn sich zu viel Liquor in den Ventrikeln (Hirnkammern) ansammelt, werden beim Welpen die noch nicht fest verwachsenen Schädelknochen auseinandergedrückt. Das führt zu einer gut sichtbaren Vergrösserung des Schädelumfangs. Gleichzeitig drückt der Liquor dabei auf das Gehirn, wobei das Gewebe so komprimiert wird, dass bleibende Hirnschäden auftreten. Je mehr die Resorption des Gehirnwassers gestört ist, desto stärker ist die Ausbildung des Hydrocephalus.
Symptome:
- Betroffene Welpen sind kleiner als ihre Geschwister.
- Anfänglich haben sie Mühe, die Zitzen zu finden.
- Die Fontanellen (Nahtstellen der Schädelknochen auf der Stirn) sind offen.
- Die Kopfform ist verändert mit stark vorgewölbter Stirn und nach unten gedrückten Augenhöhlen.
- Die Augen können von Schielen, Sonnenuntergangsphänomen, Erblinden betroffen sein.
- Die Entwicklung ist stark verlangsamt.
- Es gibt motorische Auffälligkeiten: ataktisches Gangwerk, unkoordinierte Bewegungen.
- Geistige Behinderung zeigt sich im Lernverhalten, beispielsweise durch lange Stubenunreinheit.
- Es kommt zu epileptischen Anfällen.
In der Humanmedizin werden bei Hydrocephalus erfolgreich Shunt-Operationen durchgeführt, oft schon im Mutterleib. Ein Katheter wird in die Hirnkammer implantiert, damit das Hirnwasser durch einen Silikonschlauch in den Bauchraum abfliessen kann. In der Veterinärmedizin ist diese Operationstechnik noch nicht sehr verbreitet.
Es gibt in an der Uni Giessen in Deutschland einen Professor, der mit Erfolg schwerste Fälle von Hydrocephalus operiert hat: Prof. Dr. Martin Schmidt. Sogar aus dem Ausland reisen Tierbesitzer zu ihm. Die Operationstechnik des Hydrocephalus ist seine Spezialität, er hat schon vielen Tieren das Leben gerettet