Der Zappelphilipp – AD(H)S beim Hund?

Nicht nur in der Humanmedizin streitet man sich darüber, ob es AD(H)S gibt oder nicht, das Thema ist längst auch in der Tiermedizin angekommen. Was es mit diesem Syndrom auf sich hat, ob es wirklich existiert, was dazu führen kann und wie eine Therapie aussehen könnte, beleuchten wir in diesem Artikel.

 

Die Abkürzung AD(H)S steht für die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Sie bezeichnet eine psychische Störung, die sich durch Probleme mit der Aufmerksamkeit, der Impulsivität und Hyperaktivität äussert. Das Aufmerksamkeitsdefizit kann auch ohne Hyperaktivität auftreten (ADS). Der Begriff «Aufmerksamkeit» beschreibt eine Erhöhung der Selektivität, Intensität und Dauer neuronaler Antworten auf Ereignisse, die emotional oder motivational bedeutsam sind (Mesulam, 1998).

 

Über das normale Mass?

Tatsache ist, dass es Hunde gibt, die eine Aktivität zeigen, die weit über das normale Mass hinausgeht. Diese Hunde begegnen uns auch immer wieder in der Beratung. Ebenso gibt es Hunde, die sich extrem schwer damit tun, sich zu konzentrieren und ihre Aufmerksamkeit länger auf eine bestimmte Sache oder Aufgabe zu richten. Um beurteilen zu können, ob das der Fall ist, sollte man den Hund immer mit einem Hund derselben Rasse im selben Alter vergleichen. Sonst würde jeder Terrier im Vergleich zu Pekinesen oder Neufundländern den Stempel «ADHS» tragen. Und selbstverständlich zählen Momentaufnahmen nicht, die man etwa in einer Spielstunde für (Jung-)Hunde macht. Um sich ein Bild machen zu können, muss man den Hund über einen längeren Zeitraum sowie in verschiedenen Situationen und Umgebungen beurteilen.

Zwei Dinge möchte ich vorwegnehmen: Erstens, dass auch beim Hund viel zu schnell von ADHS gesprochen wird und zweitens, dass sicherlich sehr oft einfach eine Unerzogenheit der Auslöser ist, nämlich bei Hunden, die nie gelernt haben, Ruhe zu geben und zu entspannen und die zusätzlich ständig von ihren Haltern bespasst und dadurch aufgedreht werden. Oft werden Hunde in der Pubertät als hyperaktiv bezeichnet, aber zur Pubertät gehören nun mal auch eine besondere Aktivität und Risikobereitschaft. Dazu kommen auch rassetypische Eigenschaften, auf die diese Hunde zum Teil über Jahrhunderte hinweg selektiert wurden. Wer beispielsweise einen Malinois sein Eigen nennt, darf sich nicht wundern, wenn dieser keine Couch-Potato ist.

Auf der anderen Seite ist es genauso nervig, wenn die Existenz von Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen beim Hund (und beim Kind) komplett ausgeschlossen wird, weil man damit in meinen Augen vielen betroffenen Hundehaltern (und auch Eltern), die in der Erziehung weitgehend alles richtig gemacht haben, Unrecht tut, wenn man sie einfach nur als unfähig abstempelt. Ganz klar ist auch, dass der Weg nicht das «einfache Ruhigstellen» mit Psychopharmaka sein kann, da oft auch andere Massnahmen zum Erfolg führen.

 

Diagnostische Kriterien

Wie bereits erwähnt, zeigen die betroffenen Hunde eine Hyperaktivität im Vergleich zur «normalen» Aktivität eines gleichaltrigen Junghundes dieser Rasse. Sie reagieren auf die geringste Stimulation aus der Umwelt (Hyperreaktivität) und ihre Bewegungsaktivität findet kaum ein Ende. Sie zeigen eine Hyperexzitation, sprich eine Übererregbarkeit, haben keine Selbstkontrolle, sind grob im Spiel und knallen oft in Hindernisse. Häufig führt die mangelnde motorische Kontrolle im Spiel mit Artgenossen zu Verletzungen, beispielsweise durch rücksichtsloses Anrempeln. Vielfach berichten die Besitzer vom Zerstören von Spielzeug, der Einrichtung und so weiter. Typisch ist auch eine Hyposomnie, also eine verminderte Schlafdauer und -intensität. Gelegentlich zeigen sie Stereotypien, eine gesteigerte Aggressivität und eine mangelnde emotionale Kontrolle. Sie sind schnell ablenkbar und wenig ausdauernd bei einer Aufgabe, wechseln also sehr schnell ihr Interesse. Oft fallen sie als «Störenfried» im Hundekurs auf. Wenn endlich alle Hunde liegen, ist es wieder genau dieser, der alles durcheinanderbringt… Ein weiteres Symptom ist Hypervigilanz, eine erhöhte Wachsamkeit/Aufmerksamkeit, ständiges Beobachten, kein Zur-Ruhe-Kommen.

 

Genetische und andere Faktoren

Nicht nur beim Menschen, auch beim Hund wurden (durch die Budapester Arbeitsgruppe um Ádám Miklosi) genetische Veränderungen an Dopaminrezeptoren bei besonders aktiven und impulsiven Hunden nachgewiesen. Man «sieht» also neben dem Verhalten auch andere Besonderheiten bei diesen Hunden. Ausserdem gibt es Faktoren in der Vorgeschichte, die dazu führen, dass sich – wenn sie mit der genetischen Disposition zusammentreffen – Symptome von AD(H)S ausbilden. Dazu gehören eine nervöse Mutter, die oft auch bereits in der Trächtigkeit Stress ausgesetzt war, wenig körperliches Toben und Balgen der Hunde in der Jugend und eine fehlende regulierende Erziehung durch die Mutter oder Menschen. Häufig gab es Geburtsschwierigkeiten in der Vorgeschichte dieser Vierbeiner. Oft stammen diese Hunde aus Haushalten, in denen es hektisch zugeht, sodass der Welpe, wenn er in die Familie kommt, von Anfang an im Mittelpunkt steht, keine Rückzugsmöglichkeiten hat und dadurch auch keine Chance, Ruhe und Entspannung zu erlernen. Denn diesen Punkt vergessen viele Hundehalter immer wieder: Hunde müssen Entspannung lernen! Stattdessen werden sie häufig von klein auf in viele für sie stressige Situationen gebracht, um ja in der «Prägung» nichts zu vergessen. Denn bekannt ist, dass alles im Gehirn, was in der Jugend nicht gebraucht wird, im Laufe der Pubertät wieder abgebaut wird. Dass das auch für die sogenannten hemmenden Netzwerke im Gehirn gilt, wird zu oft übersehen. Wichtig ist es also, dass der Welpe auch diese Netzwerke regelmässig benutzt, um sie zu stabilisieren. Man sollte also von klein auf einen ruhigen Rückzugsort achten und dem Hund gegebenenfalls auch mal (wenn er die Box kennt) «Zwangs-Auszeiten» verpassen. Auf die Wichtigkeit von wildem Spiel wurde bereits hingewiesen, ebenso wichtig ist es aber, dieses immer wieder zu unterbrechen, um die Impulskontrolle und die Frustrationstoleranz zu stärken. Das Syndrom ist also – wie so vieles – eine Mischung von genetischen Faktoren und der Umwelt. Typisch ist auch, dass das Verhalten dieser Hunde sehr früh auffällig wird, also bereits vor der Pubertät.

 

Was tun? Das Wichtigste für einen betroffenen Hund ist Ruhe, Ruhe und Ruhe! Leider versuchen die Halter sehr oft, den Hund durch noch mehr Action endlich mal auszupowern und müde zu machen. Bei einem Hund mit einer Hyperaktivitätsstörung wird das aber nicht zum Erfolg führen, sondern ihn ganz im Gegenteil noch mehr aufdrehen. Wichtig ist also, für ausreichende Ruhezeiten zu sorgen und ihm einen ruhigen Rückzugsort ohne viele Reize anzubieten. Eine Box ist oft gut geeignet. Aber natürlich soll der Hund nicht weggesperrt werden, sondern die Box als ruhigen und entspannenden Rückzugsort kennenlernen. Bei manchen Hunden helfen feste «Zwangs-Auszeiten» zu festen Tageszeiten. Aber dazu gleich mehr.

Zur Orientierung über die Aktivitätszeiten von Hunden helfen Untersuchungen an verwilderten Haushunden, wie zum Beispiel Günther Blochs «Pizza-Hunden». Aber auch andere Arbeitsgruppen haben Ähnliches herausgefunden: Ein Hund schläft normalerweise 50 Prozent des Tages. Die anderen 50 Prozent sind aber keinesfalls mit Action gefüllt, sondern werden zum Grossteil mit Dösen, Beobachten oder Wacheschieben verbracht. Wirklich aktiv ist ein Hund nur etwa sechs Stunden pro Tag, in diese Zeit fallen Nahrungserwerb und Sozialverhalten. Natürlich muss ein Hund – je nach Rasse – auch die Möglichkeit haben, sich körperlich auszupowern, aber weniger ist hier eindeutig mehr! Auch sollte die angebotene Auslastung nicht aus allzu hektischen Aktivitäten bestehen. Dass «Ballspielen» für solche Hunde nicht geeignet ist, versteht sich von selbst. Hingegen sind alle Formen der Nasenarbeit oder andere konzentrierte Auslastungsformen geeignet. Für die Belohnung gilt übrigens, dass sie nicht allzu hochwertig und lecker sein sollte, weil auch das den Hund sofort wieder aufdreht. Ein ruhiges (!) stimmliches Lob oder eine sanfte Berührung reicht oft aus. Entspannen können betroffene Hunde nur, wenn alle Aktivitäten zu möglichst festen Zeiten stattfinden, da man ihnen dadurch die Erwartungshaltung nimmt. Es empfiehlt sich aus diesem Grund auch alles, was am Tag passiert, durch feste Rituale zu beginnen und zu beenden. Nur wenn der Hund nicht ständig Angst hat, etwas für ihn Wichtiges zu verpassen, kann er den Rest der Zeit entspannen.

 

Entspannung füttern?

Tatsächlich gibt es einiges, was man bei der Ernährung hyperaktiver Hunde beachten sollte. Der Proteingehalt der Nahrung sollte nicht allzu hoch sein. Der häufige Trugschluss, dass ein hyperaktiver Hund ein «High-Energy-Futter» benötigt, ist also falsch und kontraproduktiv. Auch sollte der Halter darauf achten, dass keine schnell verdaulichen Kohlenhydrate (Zucker) im Futter enthalten sind, weil diese auch im Gehirn zu Energiespitzen führen. Besser geeignet sind langsam verdauliche Kohlenhydrate wie zum Beispiel Kartoffeln.

Beim Menschen ist auch nachgewiesen, dass das Weglassen künstlicher Farbstoffe die Symptomatik verbessern kann – aber die sollten in einem Hundefutter sowieso nichts verloren haben. Dasselbe gilt für den Geschmacksverstärker Glutamat, der direkt als einer der wichtigsten anregende Botenstoffe im Gehirn wirkt. Die Fütterung von Mais kann in manchen Fällen helfen, nämlich dann, wenn es sich um einen ansonsten stabilen Hund handelt. Mais enthält nämlich ein Enzym, das die Bildung der sogenannten Katecholamine, das sind erregende Botenstoffe, zu denen das Adrenalin, das Noradrenalin und das Dopamin zählen, verringert. Emotional instabilen Hunden sollte man allerdings wegen des geringen Gehaltes der Aminosäure Tryptophan, die Ausgangssubstanz des stimmungsausgleichenden Botenstoffs Serotonin ist, keinen Mais füttern.

Ungeeignete Fleischsorten für betroffene Hunde sind Rind oder Wild und allgemein Innereien, weil sie die Produktion der anregenden Katecholamine ankurbeln, da sie viel von deren Grundsubstanz Phenyalanin enthalten. Besser geeignet sind Lamm oder Kaninchen. Gegebenenfalls kann auch mit Nahrungsergänzungsmitteln eine Besserung erreicht werden, aber diese sollten dann genau auf die Persönlichkeit und die Problematik des Hundes abgestimmt sein. (Anmerkung der Redaktion: Die genauen Zusammenhänge zwischen der Ernährung und den genannten Botenstoffen finden Sie im Beitrag «Brainfood für Hunde? – Der Einfluss der Ernährung auf das Verhalten», erschienen im SHM 3/15 und auf www.hundemagazin.ch unter Themen/Ratgeber.)

 

Text: Sophie Strodtbeck

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geschrieben von:
Sophie Strodtbeck

Sophie Strodtbeck

Sophie Strodtbeck (*1975) hat ihr Studium 2002 an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Tierärztin abgeschlossen. Berufserfahrung sammelte sie in verschiedenen Praxen. Seit längerer Zeit ist sie in einer Hundeschule für tiermedizinische Belange zuständig und bietet zusammen mit Udo Ganslosser verhaltensmedizinische Beratungen an. Nebenher schreibt sie Artikel für diverse Hundezeitschriften und teilt ihr Leben derzeit mit vier eigenen Hunden.

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